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Was passiert, wenn junge Leute den Ländlichen Raum verlassen? Wie erreicht eine Region den so genannten demografischen Bonus – und wie erntet sie die demografische Dividende? Eine Reise in die Welt der Bevölkerungswissenschaft zeigt: Am wichtigsten ist die Stärkung von Frauenrechten und Bildung.
Ein Mann steigt aus seinem grünen Landrover. Am Anhänger klappen beide Seitentüren hoch zu einem Dach, im Nu baut er einen Tisch mit Computer auf – und ist ebenso schnell umringt von Jugendlichen – hier, im Umkhanyadue-Distrikt von Kwazulu-Natal, Südafrika. „Nicht so hastig“, lacht er. Mpilonhle heißt seine Organisation auf Zulu, „Gutes Leben“. Die Jugendlichen üben sich am Computer, werden über Aids-Prävention aufgeklärt und sprechen mit dem Sozialarbeiter über ihre Probleme. Dessen Landrover ist eine Art Lernmobil. „Wir sind eine Anlaufstation“, sagt er, „damit sich die Kids klar über ihre Situation werden – und sich fortbilden“. Eigentlich hätten die Jugendlichen Anlass zur Hoffnung: Das robuste Wirtschaftswachstum sollte ihnen genügend Jobs bescheren, doch es gibt ein Problem: Das wirtschaftliche Wachstum und der Wohlstand sind ungleich verteilt – und kommen bei der Jugend im ländlichen Umkhanyadue nicht an. Daher setzt Mpilonhle die Bildung auf Räder. „Nur wer lernt, kann der Armut entkommen.“
In Kwazulu-Natal droht eine stete Abwanderung der Jungen, hin zu den großen Städten. Um dies zu stoppen, bedarf es lebenswerter Zukunftsperspektiven. Dazu müssen die Leute mit Gewohnheiten brechen und sich, ganz wörtlich, in Bewegung setzen; in Umkhanyadue sind es zum Beispiel die „Mobile Units“. Wer Bevölkerungstrends gewahr wird und sich ihnen stellt, wahrt Zukunftschancen.
Die Demografie liefert hierfür die Fakten. Diese Wissenschaft untersucht an Hand der drei Teilgebiete Geburtenrate, Sterberate und Migration die Entwicklungen innerhalb einer Bevölkerung. Somit ergeben sich Stellschrauben zum Eingreifen wie Familienplanung, Altersvorsorge, berufliche Bildung und Gesundheitsdienste. Länder können voneinander lernen, wobei es aber keine Patentrezepte gibt; jedes Land braucht eine maßgeschneiderte Lösung. Für Afrika drängen sich zwei Erfolgsrezepte auf: die Förderung von Frauenrechten und Bildung.
Mit der Wahrnehmung demografischer Trends verhält es sich wie mit einer Fieberkurve. Nicht immer stand Demografie hoch im Kurs. Als der Biologe Paul Ehrlich 1968 das Buch „Die Bevölkerungsbombe“ veröffentlichte, schreckte er die Weltöffentlichkeit mit seinen Warnungen vor Hungerkatastrophen auf. Diese seien unausweichlich, menetekelte er, weil die materiellen Ressourcen für die Überbevölkerung nicht ausreichten. „Überbevölkerung“ geriet zum „Reizwort“, wurde als Ursache für viele Probleme ausgemacht – und Staaten legten Programme zur Familienplanung auf; China gar verordnete seiner Bevölkerung die Ein-Kind-Politik. Doch auch weil Ehrlich in Teilen seiner Voraussagen irrte, prägte Demografie seit den Achtzigern immer weniger öffentliche Debatten. Der Glaube an die Macht des Wirtschaftswachstums wurde wieder en Vogue: Durch eine erfolgreiche wirtschaftliche und soziale Entwicklung, so glaubte man lange Zeit, würde zum Beispiel in den Ländern Afrikas südlich der Sahara die Überbevölkerung von allein zurückgehen. Tat sie aber nicht. Noch die Millenniumsentwicklungsziele (MDG) der Vereinten Nationen von 2001 nannten den Begriff der Demografie nicht beim Namen. Doch mit der Jahrtausendwende feiert die Demografie ein Comeback. Zum einen haben der Klimawandel und gestiegene Lebensmittelpreise für eine Sensibilisierung breiter Bevölkerungsteile gesorgt. Und zum anderen haben Demograf*innen ihren Blick geschärft: Nicht nur die bloße Größe von Bevölkerungen haben sie im Blick, sondern zunehmend ihre Zusammensetzung, die Beziehungen der verschiedenen Altersgruppen zueinander, die regionale Verteilung innerhalb eines Landes sowie zunehmend auch die internationale Migration und Demografie als globales Thema. Sie fordern von der Politik mehr Gehör: Die Stiftung Weltbevölkerung in Berlin schätzt, für Familienplanung müsste in Entwicklungsregionen jährlich zwölf Milliarden Dollar investiert werden; doppelt so viel wie derzeit – dabei wäre das Geld zur Vermeidung anderer Kosten gut angelegt.
Und die Zeit drängt. Vier demografische Megatrends hat der Soziologe Jack Goldstone ausgemacht, welche die Geschicke der Menschheit maßgeblich bestimmen werden. Erstens wird die Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,2 Milliarden Menschen anwachsen. Zweitens wird bis 2050 die Zahl der über 60-Jährigen von heute 780 Millionen auf zwei Milliarden Menschen steigen. 80 Prozent dieser älteren Menschen werden in Entwicklungs- und Schwellenländern leben. Drittens wächst genau dort die größte Gruppe junger Menschen heran, die es jemals gab. Da es zunehmend schwieriger für sie wird, ihre Zukunftserwartungen zu erfüllen, erhöhen sich Frust und Gewalt; sie wandern dorthin, wo sie für sich mehr Zukunft sehen. Der vierte Megatrend schließlich ist die Urbanisierung. Bis 2050 wird die Menschheit zu über zwei Dritteln in Städten leben, ein großer Teil davon in Megacities in Schwellen- oder Entwicklungsländern.
Diese Megatrends erscheinen alternativlos. Und dennoch kann kluge Politik viel unternehmen, um sie zu beeinflussen oder um ihre Folgen zu meistern. Das Wissen der Demografen hilft ihr dabei.
Einen guten Ausgangspunkt für materiellen Wohlstand schafft sich eine Gesellschaft, wenn die Erwerbsfähigen zahlreicher sind als die „Abhängigen“, also Kinder und Alte. Eine solche Gesellschaft hat einen so genannten „demografischen Bonus“. Dieser Bonus entsteht zumeist, wenn eine Gesellschaft ihre hohe Geburtenrate senkt, mehr Kinder überleben oder gesund aufwachsen und die Sterblichkeit unter den Erwachsenen sinkt. Dieser demografische Bonus hat freilich ein Zeitfenster: Sinken die Geburten, wird in ferner Zukunft der Anteil alter Menschen steigen, sich der Bonus also seinem Ende neigen – denn die Erwerbsfähigen werden irgendwann zur Gruppe der „abhängigen“ Alten gehören, während durch den Geburtenrückgang weniger Erwerbsfähige nachrücken.
Die so genannte demografische Dividende ist dabei der volkswirtschaftliche Gewinn, den ein Land durch den Bonus währenddessen einstreichen kann. Doch was bedeutet dies konkret für ein Land? Warum wird dieser Bonus an einer Stelle der Welt gewinnbringend in eine volkswirtschaftliche Dividende umgemünzt und an anderer Stelle nicht?
Eine Reise zu einigen Staaten soll veranschaulichen, wie es sich dort jeweils mit dem demografischen Bonus verhält und wie unterschiedlich die daraus erwachsenden Chancen auf eine demografische Dividende genutzt werden: Nach Südkorea als die Dividende einstreichendes Land, dann nach Nordafrika und in den Nahen Osten als Beispielen für einen nicht genutzten Bonus. Weiter geht es nach Subsahara-Afrika mit seiner von einem Bonus noch weit entfernten Bevölkerungsstruktur – und schließlich nach Deutschland sowie China als Akteuren in der Periode der Post-Dividende.
Noch vor 50 Jahren war das erste Etappenland, Südkorea, ein isoliertes und armes Agrarland. Fünf Kinder pro Familie bildeten den Durchschnitt. Dann entwickelten Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einen umfassenden Ansatz, um das Land voran zu bringen: Es wurde in Bildung und Familienplanung investiert, durch breiten Zugang zu Verhütungsmitteln und einer verbesserten Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern sanken Geburten- und Sterberate – das Land schuf sich einen demografischen Bonus. Und man erkannte etwas zeitversetzt, wie wichtig die Erwerbsbeteiligung von Frauen für den wirtschaftlichen Fortschritt ist. Das generierte Vermögen wurde erneut in Bildung investiert. Heute zählt Südkorea zu den reichen Staaten der Welt. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat in einer Untersuchung von 103 heutigen und ehemaligen Entwicklungsländern nachgewiesen, dass sich kein einziges Land sozioökonomisch entwickelt hat, ohne dass dazu parallel die Geburtenrate zurückgegangen ist.
Doch der demografische Bonus kann sich auch in eine Last verwandeln – und in Gewalt. Im März 2011 sprühten Teenager in der syrischen Stadt Daraa regimekritische Slogans an die Schulmauer. Als die Sicherheitskräfte 15 von ihnen verhafteten, erahnten sie sicherlich nicht den Bürgerkrieg, den sie damit entzündeten. Wenige Tage zuvor waren es ebenfalls Jugendliche, diesmal aus den Slums rund um Kairo, die den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz gegen die Diktatur Macht verliehen. In beiden Fällen richtete sich jugendlicher Zorn vom Rand der Gesellschaft gegen das Zentrum der Macht. Die arabischen Revolten, die daraus erwuchsen, haben viele überrascht, nicht aber die Demograf*innen. Sie sahen voraus, dass der angestiegene Jugendanteil der arabischen Gesellschaften - eigentlich ein demografischer Bonus - vor allem Frust erzeugen würde, wenn die Politik nichts für die jungen Leute tut. Die Machthaber erhielten nämlich von den jungen Erwerbsfähigen die Quittung für ihre Politik der Vernachlässigung: für die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die nicht erfüllten Hoffnungen vieler Hochschulabsolvent*innen. Und für die fehlende politische Freiheit samt grassierender Korruption. Gerade weil immer mehr Jugendliche in diesen Ländern eine gute Bildung genossen und auf dem Arbeitsmarkt wegen stagnierender Entwicklung der Privatwirtschaft zu wenige Jobs gefunden hatten, entlud sich ihr Zorn.
Damit entwickeln sich Nordafrika und der Nahe Osten zu Blaupausen für unsere dritte Etappenstation, die Region südlich der Sahara, die in einigen Jahren ein ähnliches Unruhepotenzial aufweisen könnte wie die Länder Nordafrikas heute. Doch noch liegen die meisten afrikanischen Staaten zurück, erspähen den möglichen demografischen Bonus nur am Horizont.
Die Region zählt zu den ärmsten weltweit. 41 Prozent der Menschen in Ländern südlich der Sahara leben nach Schätzungen der Weltbank von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Die Geburtenrate liegt bei fast fünf Kindern pro Frau. Der Bevölkerungspyramide fehlt der „Bauch“ der Erwerbsfähigen und Ernährer. Dies hemmt den Aufbau von Wohlstand und das Wirtschaftswachstum.
Die Gründe für den Kinderboom sind vielschichtig. Zwei Faktoren erscheinen aber besonders bedeutsam und bieten eine gute Gelegenheit zur Reaktion: Das Guttmacher Institute ermittelte 2018, dass 62 Prozent aller jungen Frauen in Afrika, die Schwangerschaften vermeiden wollen, nicht über moderne Verhütungsmittel verfügen. Zum anderen sterben wegen der schlechten Gesundheitssituation viele Kinder. Wenn aber Eltern sich nicht über die Überlebenschancen ihrer Kinder gewiss sein können, führt dies zu mehr Geburten; fehlen doch funktionierende Sozialsysteme. Kinder sind oft die einzige „Versicherung“. Eine aufklärende Familienplanung, Gesundheitsvorsorge und breiter Zugang zu Verhütung würden also helfen. Denn sinkende Geburts- und Sterberaten würden die Region an jenen demografischen Bonus heranbringen, welcher das Wirtschaftswachstum ankurbeln könnte.
Weltweit machen Demograf*innen dieselbe Erfahrung: Je gebildeter die Frauen, je autonomer sie in ihren Entscheidungen sind, umso weniger Kinder gebären sie. Eine erfolgreiche Bevölkerungspolitik also, besonders in Staaten mit hohen Geburtenraten wie der Subsahara-Region, ist Bildungspolitik – und vor allem: Eine Politik der Stärkung von Frauen auf allen Ebenen.
Dabei nimmt der Gender-Aspekt immer mehr Raum ein. Immerhin liegen die afrikanischen Landwirtschaften in Frauenhand. Über 90 Prozent der Grundnahrungsmittel und über 30 Prozent der Marktfrüchte werden von Frauen produziert, sie stellen die Mehrheit der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte. Dies hat viele Gründe. Sicherlich stellt Wanderarbeit einen gewichtigen Faktor dar, denn sie hat sich zu einer wichtigen Einkommensform entwickelt, welche Männer für sich beanspruchen; Frauen werden auf den urbanen Arbeitsmärkten benachteiligt. Sie führen also die landwirtschaftlichen Betriebe – ohne allerdings im Schnitt die entsprechenden Rechte. Männer beanspruchen aus alten Vorstellungen heraus eine „Leitungs“-Kompetenz für sich. Entscheidungsbefugnisse und Landzugang werden Frauen beschnitten, ihre Arbeitsleistungen gesellschaftlich nicht wie nötig anerkannt. Dabei hat sich herausgestellt, dass gerade Frauen die tragenden Kräfte bei der nötigen Modernisierung der Landwirtschaft und ihrer veränderten Produktion sind.
Hier ergeben sich für die Politik einige Einflussmöglichkeiten. Es sollten mehr Agrarberaterinnen ausgebildet werden und vor allem das aus Kolonialzeiten stammende „customary law“ stärker angegangen werden: Dieses steht in einigen Punkten staatlichem Recht entgegen und diskriminiert Frauen.
Andere Regionen haben Prozesse, wie sie zum Beispiel in Afrika anstehen, bereits hinter sich. Vorletzte Etappe unserer Rundreise ist Westeuropa: Früher starkem Bevölkerungswachstum und hohem Kindersterben ausgesetzt, verbesserte sich die Situation seit Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge des medizinischen Fortschritts. Der Industrialisierung folgte ein höherer Bildungsstand, der wiederum das Wirtschaftswachstum unterstützte und den Aufbau von Sozialversicherungen nach sich zog. Schließlich, auf diesem Wohlstandsniveau angekommen, sanken die Fertilitätsraten. Denn Industrialisierung und Verstädterung sorgten mit den höheren Bildungsgraden in der breiten Bevölkerung für einen gesellschaftlichen Wandel. Kinderreiche Bauernfamilien prägten immer weniger die Realität, Kinderreichtum wurde weniger notwendig und weniger gewünscht. So eröffnete sich für Westeuropa ein demografischer Bonus, indem die Geburts- und Sterberaten sanken. Das Deutschland von heute hat sich nun anderen demografischen Trends zu stellen: Laut Statistischem Bundesamt waren Ende 2017 3,41 Millionen Deutsche pflegebedürftig. 2030 werden es eine Million mehr sein, und das bei einem Rückgang der Bevölkerung um 17 Millionen bis 2060.
Letzte Etappe: Vor ähnlichen, aber noch dramatischeren Problemen als Deutschland steht China. Der demografische Bonus wird bald aufgebraucht sein, die Dividende läuft in einigen Jahren aus. Vorbei die Zeiten, in denen junge Arbeitskräfte zuhauf das Wirtschaftswachstum ankurbelten. In einigen Jahren wird das Land, das sich über mehr als drei Jahrzehnte hinweg bis heute eine Ein-Kind-Politik verordnete, von Indien als bevölkerungsreichstes Land überholt werden. Und bis dahin sich auf Formen emotionaler Einsamkeit einstellen: Neben den Alten sind es die Kinder ohne Geschwister, die Männer ohne Frauen – weil viele Mädchen abgetrieben, Jungen als wertvoller erachtet werden. Eine besondere Herausforderung für alternde Länder ist die „fiskalische Zeitbombe“: Mit der Alterung steigen die Gesundheitskosten, sehen sich Staatshaushalte mehr Belastungen ausgesetzt. Gerade China sieht Grenzen seines staatlichen Handelns entgegen. Der US-Thinktank Brookings hat errechnet, dass in China die Steuern für jeden Beschäftigten binnen der kommenden 20 Jahre um 150 Prozent steigen müssten, um die Alten genauso gut zu versorgen wie heute.
Am Ende dieser Tour d’horizon zwischen Bonus und Dividende steht fest: Versäumnisse werden bitter bestraft. Es reicht nicht, dass Demografie, vom Dornröschenschlaf erweckt, nun zum Modewort avanciert. Die Stellschrauben müssen heute gedreht werden.