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Afrika steht vor dem Absprung. Es gibt vielversprechende Ansätze einer nachhaltigen Industrialisierung. Doch der Weg dahin stellt den Kontinent vor neue Herausforderungen.
In afrikanischen Ländern arbeitet die Mehrzahl der Beschäftigten meist in der Landwirtschaft. Nach allen Vorhersagen wird das normalerweise auch so bleiben. Die große Mehrzahl neuer Arbeitsplätze wird in der Landwirtschaft, jedenfalls im ländlichen Raum, entstehen. Außerdem eröffnen sich Beschäftigungsperspektiven in der Infrastruktur und modernen Service-Branchen, vor allem im IT-Bereich.
Vor nicht einmal zwei Jahrzehnten beschrieb die Fachwelt diese Kombination von Landwirtschaft und Dienstleistungen als den einzig möglichen Trend kontinentaler Wirtschaftsentwicklung. Wissenschaftliche Papiere mit Titeln wie ‚Should Africa industrialise?‘ – speziell aus angelsächsischen Federn – beantworteten diese Frage regelmäßig mit „nein“ und empfahlen ein Überspringen des Industriezeitalters. Das sogenannte Leapfrogging, Bockspringen, bezeichnete hier das Auslassen eines ganzen Wirtschaftssektors, der verarbeitenden Industrie, und legte stattdessen den direkten Übergang in ein reines Agrar- und Service-Zeitalter nahe. Die Nachahmung des ostasiatischen Entwicklungsmodells erschien unrealistisch. Ganz und gar ausgeschlossen war eine gezielte Industriepolitik, die dem langsamen Tempo hätte nachhelfen können. Zu tief saß die Erinnerung an die grandios gescheiterten Versuche in Lateinamerika und Afrika, Industrialisierung mit Staatsbetrieben hinter hohen Zollmauern zu bewerkstelligen, was von Ausnahmen abgesehen hauptsächlich zur Serienproduktion weißer Elefanten geführt hatte.
Nicht erst seit die Flüchtlingskrise der Frage nach Arbeitsplätzen in Afrika eine neue Bedeutung verliehen hat, hat sich hier ein tiefgreifender Paradigmenwechsel vollzogen. Neue Untersuchungen zur Beschäftigungsentwicklung in Afrika zeigen, dass das Jobwachstum im privaten Service-Bereich, im öffentlichen Dienst oder der Landwirtschaft nicht annähernd die Zahl der Arbeitsplätze schaffen wird, die für all die jungen Arbeitskräfte erforderlich sind. Das demographische Window of Opportunity klappt dann gleich wieder zu. Durchgespielte Szenarien zeigen die Notwendigkeit eines drastischen Wandels, der ohne energische politische Unterstützung wiederum unrealistisch ist. So ist schließlich mit der verarbeitenden Industrie als Jobmotor auch die Industriepolitik wieder ins Zentrum der entwicklungspolitischen Debatte gerückt. Zu dieser Agenda kommen die neuen Anforderungen wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit. Rauchende Schlote sind auch in Afrika keine wirkliche Option mehr. Nichts weniger als ein dreifacher Paradigmenwechsel ist also umzusetzen. Viel schwieriger kann die Aufgabe eines Industrie- und Handelsministeriums, das diesen Prozess mit der Privatwirtschaft koordinieren soll, nicht sein.
Immerhin sind die praktischen Modalitäten moderner Industriepolitik einigermaßen geklärt: ein gemeinsamer Suchprozess von öffentlicher Hand und privater Wirtschaft nach industriellen Investitionsmöglichkeiten, gezielte Förderung mit klarem Zeithorizont und öffentlicher Kontrolle, und so weiter (siehe auch: PEGNet Policy Brief) Theoretisch viel weniger klar ist, welche Industriezweige die wirtschaftlichen Nachzügler unter den Entwicklungsländern denn nun anstreben sollen. Das folgt schon aus der Anlage moderner Industriepolitik, welche die kollektive ‚Self-Discovery‘ in einer Welt komplexer industrieller Arbeitsteilung zum Prinzip erhoben hat. Wachstumsmuster sind generell vielgestaltiger als sie in früheren Industrialisierungsstadien erschienen. Eine klassische Abfolge von Entwicklungsschritten, von der Leicht- bis zur Schwerindustrie, ist kaum noch beschreibbar. Planung ist also im Rahmen einer modernen Industriepolitik nicht leichter, sondern schwerer geworden.
Natürlich werden auch in einem solchen Szenario viele Arbeitsplätze nachgelagert zur Landwirtschaft entstehen, das heißt, in der Agro-Industrie oder in der Verarbeitung agrarischer Rohstoffe wie Textil- und Lederwaren. Die Tatsache, dass gemäß dem ‚Flying Geese‘-Paradigma (Fluggänse-Modell) die Industrie von einem Land zum nächsten weiterzieht, begünstigt das: zu sehen am Beispiel arbeitsintensiver Industrien, die einst in Japan begannen und nun längst von China westwärts ziehen. Allerdings lernt eine Volkswirtschaft im Ganzen nicht viel von der Ansiedlung ausgereifter, arbeitsintensiver Industrien. Das Entstehen von Jobs und technologischem Knowhow ist auch in Afrika nicht deckungsgleich. Eine Wirtschaftspolitik, die dynamische industrielle Netzwerke fördert, muss auf beides zielen. In gewollter Anspielung auf das, was in unseren PCs steckt, habe ich das den doppelten Kern (dual core) moderner Industrialisierungsstrategien genannt. Südafrikas zum Teil erfolgreiche Industriepolitik kommt dem in der Praxis am nächsten.
Dass viele dieser Trends für Afrika nicht sicher vorhersagbar sind, gilt auch für die Versprechen, welche die digitale Revolution bereithält. In IT-gesättigten Branchen liegt der eine Schwerpunkt – im Überspringen des Stadiums der Festnetz-Telefonie oder in der Entwicklung von innovativen Bankdienstleistungen. Tatsächlich blühen die Startups in Afrika vor allem in der Entwicklung von Software und IT-gestützten Dienstleistungen. Demgegenüber sind die neuen Risiken für klassische Industriebeschäftigung, die durch die Ausbreitung des Internets der Dinge entstehen, beziehungsweise durch das, was wir in Deutschland als Industrie 4.0 bezeichnen, für Entwicklungsregionen noch gar nicht umrissen. Wir wissen also nicht genau, wie sich die digitale Revolution in Afrika unter dem Strich auswirken wird.
Bleiben wir bei Sprungversuchen. Die zweite Branche, die in Afrika mit neuartigen technischen Lösungen aufwartet, ist der Bereich der erneuerbaren Energien, insbesondere mit netzfernen Solarsystemen, und bald wohl Kombinationen mit netzgebundenen Lösungen. Wie bei der Telekommunikation wird hier das Systemversagen großer Netzwerke in Afrika kreativ überbrückt, und das Ergebnis ist auch ein wachsender Beitrag zu nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung im Sinne der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG). Jedenfalls ist nun gegen einschlägige Thesen aus der alten Entwicklungsökonomie klar geworden, dass Leapfrogging sich nicht auf das Überspringen von Industrialisierung im Ganzen, sondern auf sprunghafte Fortschritte innerhalb einzelner Industrien und Dienstleistungen in Richtung nachhaltiger und inklusiver Lösungen bezieht. Allerdings ist die energiepolitische Debatte in Afrika noch längst nicht im Sinne der Nachhaltigkeit entschieden. Große kohlereiche Länder wie Mozambique, Nigeria oder Südafrika stehen vor der Wahl, zumindest für eine Übergangsphase ihrer Entwicklung: Sollen sie voll auf erneuerbare Energien setzen oder erst einmal auf einen Energie-Mix?
Einige Forscher sagen, afrikanische Firmen sollten sich auf einzelne Arbeitsschritte konzentrieren und nicht auf die Ansiedlung ganzer Industriezweige.
Ähnlich unübersichtlich ist die Perspektive industrieller Arbeitsteilung. Die Partizipation afrikanischer Produzenten in globalen und regionalen Wertschöpfungsketten zu fördern, gehört zu den neuen EZ-Routinen. Einige Forscher sagen, afrikanische Firmen sollten sich auf einzelne Arbeitsschritte konzentrieren und nicht auf die Ansiedlung ganzer Industriezweige. Doch wo eben noch die Auflösung konzentrierter Industrieproduktion („The Great Unbundling“) beschrieben wurde, sind nun wieder Trends zur Re-Agglomeration wichtiger Industriezweige zu beobachten. Ist es also doch sinnvoll, eine vollintegrierte Textilkette in Äthiopien zu haben, oder zumindest in einer Regionalgemeinschaft? Hier ist Entwicklungsländern schwer zu raten. Wegen dieser Unsicherheiten, die nur in strukturiertem Dialog mit praktischen Iterationsschleifen einzugrenzen sind, aber auch wegen der politökonomischen Risiken – wie Korruption oder Klientelismus – gehört moderne Industriepolitik in Entwicklungsländern zu den anspruchsvollsten Politikfeldern. Vielen Ländern wird sie nicht gelingen, zumal noch mindestens zwei Probleme hinzukommen.
Besonders schwierig ist Industrieförderung in einer Ländergruppe, die eigentlich die finanziellen Mittel dafür hätte: Länder, die reich an mineralischen Rohstoffen sind. Hier ist der Entwicklungsökonomie auch nach jahrzehntelanger Diskussion über den sogenannten Ressourcenfluch nur in Umrissen klar, wie der strukturellen Benachteiligung von Landwirtschaft und Verarbeitendem Gewerbe gezielt beizukommen ist.
Da ist schließlich der Zusammenhang von Industrialisierung und Regionalintegration. Dass eine ganze Reihe von Industrien aus Gründen der Skalenökonomie große zusammenhängende Märkte braucht, ist die eine Facette. Umgekehrt steht und fällt erfolgreiche Regionalintegration ihrerseits mit verhältnismäßig ausgeglichener Industrialisierung unter den Mitgliedsländern. Und das ist politisch noch schwieriger zu bewerkstelligen. Auch die Förderung regionaler Wertschöpfungsketten hat nicht automatisch einen ausgleichenden Effekt. Industrie- wie Entwicklungsländer verfallen daher immer mal wieder auf die Idee, Industriepolitik gegen die eigene Regionalgemeinschaft zu betreiben. Was dem einen sein „Buy American“ auf Kosten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA, ist dem anderen sein „Buy Ugandan“ auf Kosten der ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC). Beides ist problematische Politik, um es milde auszudrücken. Überhaupt ist der Zusammenhang von Agrar-, Industrie- und Handelspolitik unsicheres Gelände geblieben. Aus all diesen Gründen ist die Zahl der afrikanischen Länder, die tatsächlich in einigen Branchen erfolgreiche Industriepolitik betrieben hat, sehr klein geblieben: Mauritius, Südafrika, Botswana, Äthiopien, Ruanda. Und auf der Liste steht kein einziger Ölproduzent.
Man kann das auch positiv wenden: Nachhaltige Industrialisierung wird für lange Zeit eine der spannendsten entwicklungspolitischen Herausforderungen bleiben, und und Afrika ist voll von phantasievollen Initiativen dazu.