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Die Kämpfe zwischen den israelischen Streitkräften und der palästinensischen Hamas eskalieren. Was bedeutet das für eine Region, die schon vorher stark von äußerer Hilfe abhing? Fragen an Dr. Muriel Asseburg, Senior Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Was wissen Sie über die humanitäre Lage in Gaza?
Dr. Muriel Asseburg: Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist gerade katastrophal. Da kommen mehrere Elemente zusammen. Das erste sind die Bombardierungen, bei denen eben neben Hamas-Kämpfern und -Führungspersonal sehr, sehr viele Zivilistinnen und Zivilisten zu Tode kommen. Bis vergangenen Mittwoch sind über 8300 Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza getötet worden, davon fast 3500 Kinder. Das zweite Element ist die Evakuierungsaufforderung vom 13. Oktober, die dazu geführt hat, dass Hunderttausende von Palästinensern vom Norden versucht haben, in den Süden zu kommen, wo sie zum Teil jetzt in Zeltstädten leben, zum Teil in völlig überfüllten Einrichtungen von UNRWA und zum Teil unter freiem Himmel, und wo sie keinen ausreichenden Schutz finden, keine ausreichende Versorgung. Und das dritte Element, das die Situation so prekär macht, ist die vollständige Abriegelung, die Israel am 8. Oktober verhängt hat. Seitdem kommen über die israelische Grenze keine Lebensmittel und keine Medikamente mehr rein. Trinkwasser kommt nur noch sehr, sehr wenig und stundenweise – und nicht in alle Teile des Gazastreifens. Elektrizität wird nicht mehr zur Verfügung gestellt, und das hat dazu geführt, dass die Stromversorgung völlig zusammengebrochen ist, mit katastrophalen Auswirkungen für die Krankenhäuser, für die Trinkwasserversorgung, für die Entsalzungsanlagen, für die Kläranlagen, die alle kaum oder gar nicht mehr funktionieren.
Was könnte denn schnelle Hilfe bringen?
Es gibt jetzt Hilfslieferungen, die über den Grenzübergang Rafah in den Gazastreifen kommen, nachdem die ersten zwei Wochen gar nichts geliefert werden konnte. Seither sind nach Angaben von UNRWA 143 Lastwagen reingekommen. Aber eigentlich, so sagt die UN, bräuchte es jeden Tag mindestens 100 LKWs mit Hilfslieferungen, um dem Bedarf auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Und es bräuchte natürlich die Wiedereinsetzung der Trinkwasserlieferungen. Und Treibstofflieferungen, damit die Generatoren unter anderem der Krankenhäuser wieder betrieben werden können. Was jetzt essenziell wäre, wären humanitäre Feuerpausen, damit die Lieferungen eben nicht nur im Süden des Gazastreifens ankommen, sondern auch in den Norden, wo sich ja auch nach wie vor Palästinenserinnen und Palästinenser aufhalten.
Haben Sie Verständnis für den Aufruf zur Evakuierung des nördlichen Gazastreifens?
Ich kann das nachvollziehen. Natürlich hat Israel Interesse daran, dass beim Kampf gegen Hamas und andere militante Gruppierungen nicht diese Bilder entstehen, die jetzt um die Welt gehen – von so vielen getöteten Zivilistinnen und Zivilisten. Aber die Evakuierung aus dem Norden ist so nicht umzusetzen. Denn bettlägerige Patienten, alte Menschen, schwangere Frauen können gar nicht in den Süden gehen. Und es gibt keine ordentliche Evakuierung. Das heißt, die Menschen finden keine angemessene Unterkunft und sind auch im Süden nicht an einem Ort, wo sie geschützt sind. Das ist sehr problematisch. Schwierig ist auch, dass Israel die Evakuierungsaufforderung nicht mit einer klaren zeitlichen Befristung und mit einer Garantie verbunden hat, dass die Menschen wieder zurückkehren können.
Sehen Sie Möglichkeiten für eine Art von Verständigung zwischen der israelischen Regierung und der Hamas?
Eine Verständigung, einen zwischen den Konfliktparteien verhandelten Waffenstillstand, sehe ich derzeit überhaupt nicht. Indirekte Absprachen hat es ja in der Vergangenheit tatsächlich immer wieder gegeben. Aber das ist derzeit nicht möglich. Denn die Zielsetzung der israelischen Regierung, die Strukturen der Hamas zu zerschlagen und Führungspersonen und Kämpfer der Hamas zu töten, ist ganz eindeutig. Da gibt es jetzt kein Interesse an einer Verständigung – außer mit Blick auf die Befreiung der Geiseln. Hier finden ja auch tatsächlich Verhandlungen statt, nicht direkt zwischen Israel und der Hamas, aber eben über Dritte. Und Israel hat natürlich in der Tat sehr großes Interesse daran, dass die Geiseln freikommen.
Aber Sie sehen nicht, dass diese Geiselverhandlungen einen gewissen Rahmen überschreiten.
Nein. Von Seiten der Hamas versucht man wohl, hier verschiedene Fragen miteinander zu verknüpfen: Geiselbefreiung im Austausch gegen Gefangene, Waffenstillstand, humanitäre Lieferungen. Ich sehe aber nicht, dass Israel dazu bereit ist. Und insbesondere ist Israel nicht zu einem umfassenderen Waffenstillstand bereit, sondern verfolgt jetzt ganz klar das Ziel der militärischen Vernichtung der Hamas und der Wiederherstellung seiner Abschreckung.
Wo sind denn gerade Lösungsansätze, um nach vorn zu denken?
Ich sehe sehr große Bemühungen in der internationalen Gemeinschaft, deeskalierend zu wirken. Der Schock über das, was am 7. Oktober passiert ist, und die schlimmen Bilder, die wir jetzt aus dem Gazastreifen sehen, machen allen Beteiligten klar, dass es ein Zurück zum Status quo ante so nicht geben kann. Die Idee, dass man dem Gazastreifen und überhaupt die Palästinafrage weiter verwalten bzw. ignorieren kann, dass sie eigentlich keine Rolle mehr für die Region spielen würde, die ist gescheitert.
Und deshalb hoffe ich, dass die jetzigen diplomatischen Bemühungen auch die Chance bieten, tatsächlich über nachhaltige Regelungen für den Umgang mit dem Gazastreifen und der Palästinafrage insgesamt ins Gespräch zu kommen.
Und dass es in dieser Hinsicht zu einer konzertierten Aktion zwischen den Amerikanern, den wichtigen arabischen Staaten und den Europäern kommt.
Welche Auswirkungen wird der aktuelle Konflikt Ihrer Einschätzung nach auf die kommenden Generationen von Kindern, also den palästinensischen Kindern in Gaza, aber auch den jüdischen Kindern in Israel haben?
In beiden Gesellschaften rühren die aktuellen Ereignisse an die kollektiven Traumata, die so tief in die Gesellschaften eingeschrieben sind, und bringen sie wieder hervor: die Shoah in der israelischen Gesellschaft und die Nakba, also die Flucht und Vertreibung von 1948, in der palästinensischen Gesellschaft. Das führt dazu, dass die Gesellschaften nicht empathisch mit der anderen Seite sein können. Sie werden auf die kollektiven Traumata und die damit verbundene Hilflosigkeit zurückgeworfen. Letztlich können diese aber nur erfolgreich bearbeitet werden, wenn der Konfliktkontext nicht immer weiter den Alltag dominiert. Wenn es Perspektiven gibt, die Sicherheit und wirtschaftliche und soziale Entfaltungsmöglichkeiten für beide Bevölkerungen herstellen.
Was wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten angeht, herrschen eh zunehmend ungünstige Bedingungen. Dürreperioden treiben die Region des Nahen Ostens in eine massive Abhängigkeit von Importen. Welche Folgen hat der Konflikt für die lokale Lebensmittelversorgung und vor allem für die Ernährungssicherheit?
Die Einschränkungen für die lokale Nahrungsmittelproduktion in Gaza sind im Wesentlichen politische Einschränkungen und weniger solche, die auf Naturereignisse und Klimaveränderungen zurückgehen. Sie liegen vor allem an der Abriegelung und der Einrichtung einer Sperrzone entlang des Grenzzaunes (innerhalb des Gazastreifens) und mit der Einschränkung des Gebietes, in dem die Bevölkerung Gazas fischen darf. Es ist zu erwarten, dass diese Sperrzonen noch wesentlich breiter werden. So verstehe ich zumindest die Ankündigungen der israelischen Regierung, dass der Gazastreifen nach dem Krieg kleiner sein wird. Und so interpretiere ich auch die Bombardierungen vor allem im Norden und im Osten des Gazastreifens: Dass es darum geht, diese Sperrzonen noch deutlich größer zu machen. Und das würde dann auch die Flächen im Gazastreifen, die heute überwiegend landwirtschaftlich genutzt werden, deutlich verkleinern. Es ist auch wahrscheinlich, dass die seeseitige Abriegelung noch weiter verschärft würde, sodass die Fischerei noch weiter eingeschränkt wird.
Das wäre beides tatsächlich fatal für die Lebensmittelproduktion, und es müssten noch mehr Lebensmittel nach Gaza eingeführt werden, als das bislang der Fall war.
Und das würde im Grunde einen von dem entfernen, was eigentlich wichtig wäre: nämlich Nachhaltigkeit.
Ja, absolut. Aber wir haben schon seit Beginn der Abriegelung 2006, der Verschärfung 2007 und auch unter dem sogenannten Gaza-Wiederaufbaumechanismus von 2014 keine Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung gehabt. Vielmehr ist die Wirtschaft im Gazastreifen völlig zusammengebrochen und die Bevölkerung immer stärker von internationaler Unterstützung abhängig geworden. Vor Ausbruch dieses Krieges waren 80 Prozent der Bevölkerung im Gazastreifen von internationaler Unterstützung abhängig. Dazu beigetragen hat neben der Abriegelung und den wiederkehrenden kriegerischen Auseinandersetzungen auch die Prioritätensetzung der von der Hamas geführten Regierung im Gazastreifen, die die Fortführung des bewaffneten Kampfes priorisiert hat. Wir sehen ja gerade, wie viel in die Vorbereitung des Krieges auch von Hamas-Seite investiert worden ist.
Wo kann internationale Entwicklungspolitik ansetzen, jenseits von der humanitären Hilfe, wenn einerseits der Bedarf so groß ist, Entwicklung voranzutreiben, andererseits man es aber auch mit Herrschenden wie mit der Hamas in Gaza zu tun hat, die eben andere Prioritäten setzt als Entwicklung und Nachhaltigkeit?
Wir müssen jetzt nicht darüber nachdenken, wie man Entwicklungszusammenarbeit mit einem Gebiet wie vor dem 7. Oktober hätte gestalten können.
Jetzt geht es darum, nach dem Krieg einen politischen Rahmen zu schaffen, in dem tatsächlich nachhaltige Entwicklung möglich ist.
Und das würde bedeuten, dass es einen weitgehend freien Personen- und Warenverkehr für Gaza gibt. Dies kann ich mir nur im Rahmen eines verhandelten Arrangements vorstellen – ein Arrangement, dass regional und international verhandelt und abgesichert wird. Tatsächlich sind in der Vergangenheit schon viele Pläne vorgelegt worden, welche Maßnahmen getroffen werden können, um eine solche Öffnung sicher zu machen. Und es gibt viele Elemente, die unterschiedliche Länder und Organisationen da beitragen können. Aber nur, wenn es solch einen politischen Rahmen gibt, können Wiederaufbau und wirtschaftliche Erholung funktionieren und auch nachhaltige Effekte erzeugen. Sonst reden wir über humanitäre Hilfe, die letztlich nur die Situation bis zur nächsten bewaffneten Auseinandersetzung abmildern kann.
Sie sagten, dass im Gazastreifen der Klimawandel jetzt eine kleinere Rolle spiele, weil es größere Probleme gibt. Eine Herausforderung aber bleibt er ja. Gäbe es vielleicht auch Möglichkeiten, hier einen Ansatz zu suchen, wie palästinensische Landwirtschaft und israelische Landwirtschaft gemeinsam an Lösungen arbeiten, um sich an diesen Wandel anzupassen?
Theoretisch ja, und das wäre in diesem kleinen Land ja überaus sinnvoll. Praktisch sehe ich dafür derzeit überhaupt keine Basis, weil es keine entsprechenden politischen Kontakte zwischen der Regierung in Israel und der Autonomiebehörde im Westjordanland gibt. Ich kann sie mir auch nicht vorstellen, in einer Situation, in der die israelische Regierung darauf beharrt, dass es einen exklusiven Anspruch von Jüdinnen und Juden auf das gesamte Territorium gibt, in der sie systematisch die Autonomiebehörde schwächt und in der sich auch das Westjordanland in einer Phase der Eskalation befindet. Wichtig wäre, erst einmal zu verhindern, dass auch die Westbank eine größere bewaffnete Eskalation erlebt.
Gehen wir mal davon aus, man findet diese politischen Regelungen. Welche Rolle würden dann die Agrar- und Ernährungssysteme sowie ihre Umgestaltung spielen?
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, dass es mir gerade schwerfällt, mir das vorzustellen. Was am 7. Oktober passiert ist, rückt für mich alle Regelungen, die mit Kooperation zu tun haben, die darauf ausgerichtet sind, gemeinsam in Israel und den palästinensischen Gebieten zu leben und gemeinsam Probleme zu bearbeiten, in noch weitere Ferne als zuvor. Gerade tendiert alles nicht zu Kooperation, sondern gen Trennung, wahrscheinlich mit einer deutlich stärkeren Abschottung für relativ lange Zeit. Wie aus der jetzigen Situation des existentiellen Konflikts eine enge Kooperation entstehen kann, die notwendig wäre, um die großen ökologischen Fragen gemeinsam anzugehen, dafür fällt mir gerade die Fantasie.
Wo kann dann die internationale Zusammenarbeit ansetzen, um zu einer allgemeinen Sicherheit im Nahen Osten beizutragen?
Es braucht ein international vorbereitetes Arrangement, das schrittweise zu einer Konfliktregelung führt, in der beide Seiten, sowohl die jüdisch-israelische Bevölkerung als auch die palästinensische Bevölkerung, ihr Recht auf Selbstbestimmung verwirklichen können und in der auch eine Regelung für den Umgang mit den Flüchtlingen gefunden wird.
Welche Zukunft sehen Sie für Gaza?
Es gibt im Grunde fünf Szenarien für die mittelfristige Zukunft Gazas. Erstens eine Wiederbesetzung und vielleicht sogar Wiederbesiedlung des Gazastreifens durch Israel. Das zweite wäre eine verstärkte Abriegelung, also die Einrichtung von breiten Pufferzonen und einer geschlossenen Grenze nach Israel. Das dritte wäre die Vertreibung eines großen Teils der Bevölkerung des Gazastreifens; das, was die Palästinenser als neue Nakba sehen. Diese drei Szenarien können alle keine dauerhafte Stabilität bringen und keine nachhaltige Entwicklung in Gang setzen. Und es gäbe zwei weitere Szenarien: Eines wäre eine robuste Friedensmission der UN und eine internationale Verwaltung. Und das letzte Szenario wäre das einer verhandelten Öffnung des Gazastreifens, in der die Amerikaner, arabische Staaten und die Europäer Verantwortung übernehmen, um einen Übergang zu gestalten, der die Sicherheitsbedürfnisse beider Bevölkerungen berücksichtigt sowie das palästinensische Recht auf Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Meiner Ansicht nach sind diese beiden letzteren Szenarien die einzigen, die tatsächlich dauerhaft Sicherheit versprechen. Die Idee einer UN-Truppe und einer UN-Übergangsverwaltung halte ich aber für sehr unrealistisch, weil der Sicherheitsrat in dieser Hinsicht blockiert ist. Zwischen den USA auf der einen und Russland sowie China auf der anderen Seite kann man sich kaum vorstellen, dass man sich auf ein Modell einigen könnte.