Auch Innovationen brauchen ihre Zeit
Manch gute Ideen werden nicht Wirklichkeit. Ihr helfen jedenfalls Geduld, langfristiges Denken und der Mut, aus Fehlern zu lernen.
Dieser Plan klang zu gut, um nicht zu klappen. Mit einer einfachen und durchschlagenden App den versteckten Hunger aufspüren, den Mangel an Mikronährstoffen bei Menschen aufspüren, um gegensteuern zu können – das leuchtete Simon Riedel sofort ein. Als sich der selbständige Software-Entwickler bei einer Ausschreibung der Universität Hohenheim 2015 bewarb, dachte er an die Relevanz des Themas und an die Dringlichkeit einer praktischen Lösung. Mikronährstoffmangel ist ein auf den ersten Blick unsichtbares Hungerproblem, doch er sorgt für lebenslange Gesundheitsprobleme. Ihn in Armutsregionen anzugehen, ist eine Hauptaufgabe der globalen Hungerbekämpfung bis 2030. Die von einem Team um Riedel entwickelte App hatte erste Testläufe in Äthiopien.
Wir gehen zielorientiert vor“, erklärt Riedel das Prinzip. „Die Leute werden von ‚Health Officers‘, die es bereits gibt, konkret befragt: ‚Was hast du gestern gegessen?‘“ Die App erstelle binnen 15 Minuten ein Profil – ohne Internet. Und sie erlaube dann bei späterem Netzanschluss den Aufbau einer großen quasi Echtzeit-Datenbank, welche Aufschluss darüber gibt, was genau an Ernährung in gewissen Regionen verbessert werden kann. Alles leuchtet ein. Zwar ist die App heute, sechs Jahre später, noch nicht am Start. Aber: „Man braucht einen langen Atem“, fasst Riedel zusammen. „Innovationen in der Entwicklungszusammenarbeit sind am besten langfristig zu denken.“ Und „MicroGap Ethiopia“ ist ein Erfolgsprojekt, das weite Kreise ziehen will.
Gute Ideen erleiden oft einen frühzeitigen Tod. Mal ist es der Mangel an Skalierbarkeit in der Praxis, oder das Umfeld wird nicht mitgedacht.
Manchmal werden auch schlicht nicht genügend Leute überzeugt. „Geistig zu langsam, ungesellig und ständig in seinen idiotischen Träumereien versunken“, urteilte ein Lehrer – über seinen Schüler Albert Einstein. „Kein bisschen unterhaltend. Halt eine Band, sehr gewöhnlich, mit einem Sänger ohne Persönlichkeit“, meinten die Talentscouts der BBC über den jungen David Bowie.
Dabei trägt Scheitern zum Erfolg bei. Bei den Startups Kaliforniens gehört es seit Jahrzehnten zum guten Ton, auch Schiffbruch erlitten zu haben. In „Failure Conferences“ feiern sie sich und ihre gemachten Fehler, aus denen sie dieses und jenes gelernt haben, eben eine Fehlerkultur pflegen, die nur langsam, aber sicher auch in Deutschland zu wurzeln beginnt; ab und zu gibt es so genannte „Fuck-up Nights“ zwischen Flensburg und München. Auch der 41-jährige Riedel, der sich als promovierter Agrarwissenschaftler mehr als Architekt sieht, nämlich als Vermittler zwischen Programmierern und Einsatzmanagern, bemängelt, dass der Begriff des Scheiterns hierzulande noch zu negativ konnotiert sei. Warum dauert es mit der praktischen Umsetzung also länger als geplant?
Eigentlich ist Riedel bei Projekten ein Freund von „schnell rein und schnell raus“, er habe vieles angefangen, welches nichts geworden sei – und erinnert sich zum Beispiel an eine Software, die er für die Landesforstämter zum Zusammenlegen von Walddaten entwickelt hatte, deren Potenziale aber nie vollends ausgeschöpft wurden, weil sie an den Bedenken scheiterte, welche die Behörden untereinander sich gegenüber pflegten. Bei der Entwicklungszusammenarbeit merkte er wiederum, dass es viele Faktoren zu bedenken gebe – und den Willen, nicht sofort aufzugeben. Rasch erregte die entwickelte Ernährungs-App internationales Aufsehen, es gab zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, einen Preis und viele Downloads der Papers; mehrere Institutionen zeigten Interesse.
Als das Projekt Ende 2018 auslief, war man sich im Team uneins: Schnell zur Anwendung bringen oder größer angelegt forschen? Riedel wollte ersteres und weiterziehen, die GIZ reagierte positiv. Aber es kam zu internen Verzögerungen, „im Alltag waren wohl erstmal andere Aufgaben zu bewältigen“, vermutet Riedel. Im September 2020 schließlich der Auftrag zu einem Survey, einer Studie in Äthiopien. Doch dann brachen im Land Unruhen aus. Die Arbeiten blieben vor Ort unerledigt. Im Januar 2021 reiste Riedel mit einem Team nach Äthiopien, erhob einige Daten und feilt nun bis Sommer 2021 am Projektplan für die nächste Stufe. Wann also endlich der Durchbruch? „Vielleicht im Sommer 2022.“ Er habe gelernt, dass man einen in Deutschland entworfenen Plan in afrikanischen Ländern nicht einfach durchziehen könne. „Ich nehme nur Projekte an, in denen ich das Potenzial für einen großen Sprung sehe. Viele scheitern dann auch.“ Wobei „scheitern“ seiner Meinung nach in diesem Fall kaum passe, denn:
„Bei ‚Moonshot-Projekten‘ ist es kein Scheitern auf ganzer Linie, wenn die Rakete nicht ganz bis zumMond kommt, sowas ist normal bei Vorhaben in unsicherem Umfeld und mit hohem Innovationslevel.“
Geduld zahlt sich aus. Ein Harvard Schultz zum Beispiel erhielt 244 Bankenabsagen zur Finanzierung seiner Idee – mit Starbucks klappte es dann doch. Walt Disney kassierte für seine Idee zu Disneyland gar 302 Absagen. Colonel Sanders beantragte 1009 Mal erfolglos die Finanzierung seines Plans: Kentucky Fried Chicken. Und James Dyson behauptet, 5216 Prototypen gebaut zu haben, bis er funktionierte: der Vakuum-Staubsauger. Scheitern trägt vorher das Unabwägbare in sich: Innovationen heißen so, weil niemand sie vorher testete. Scheitern ist also eine Lernerfahrung, das Ergebnis von Experimenten. Doch noch tut man sich mit Fehlern in Deutschland schwer. Der Psychologe Michael Frese, einer der renommiertesten Fehlerforscher weltweit, hat Deutschland in einem globalen Ranking auf den vorletzten Platz gesetzt. Scheitern werde zu wenig als Teil eines Erfolgsrezepts gesehen, meint er. „Wer unbedingt Fehler vermeiden will, läuft Gefahr, Fehler nicht zu managen“, sagte er im Gespräch mit dem Ärztemagazin „zwei“. „Wenn sie doch auftreten, wird das Handtuch geworfen – und dieses Scheitern bleibt hängen, nicht der Fehler. Es ist also wichtig, dass ich einen Fehler schnell erkenne und rasch Konsequenzen ziehe, ohne darüber nachzudenken, welch ein Idiot ich war.“
Eine wichtige Einsicht, die nicht immer leicht umzusetzen ist. Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel ist steuerfinanziert und begründet ihre Ausgaben transparent gegenüber der Öffentlichkeit. Da stehen Fehler schnell in einem ungünstigen Licht. Dabei ist es für sie wie für jedes andere Unternehmen notwendig, im Schatten sich rascher ändernder Umgebungen Stabilität und Beweglichkeit zugleich zu zeigen. Eine Kultur nur aus Regeln und standardisiertem Vorgehen kann rasch an Grenzen stoßen: Immer mehr öffnen sich daher staatliche Institutionen agilen Strukturen und flexiblen Reaktionen. Nur braucht diese Reise eine gewisse Zeit. Je besser zum Beispiel Fehler kommuniziert werden, desto eher können sie künftig vermieden werden; dafür brauchen indes Hierarchien, wie es sie in Behörden oder anderen staatlichen Trägern gibt, das Wachstum einer gewissen Fehlertoleranz. Denn ein Sprichwort fasst zusammen: „Nur wo nicht gearbeitet wird, passieren keine Fehler.“ Fehlerkommunikation bedeutet: Nicht auf ihnen herumreiten, sie aber auch nicht zum Hype erklären. Und je flacher Hierarchien, desto leichter wird es, Fehler zu benennen und aus ihnen zu lernen. Aber: Rasch Konsequenzen ziehen, Geschwindigkeit zeigen, darin sieht Frese keine deutsche Spezialität. „Angst kann Innovationen behindern. Aber die Angst ist nicht per se das Problem, sondern eher die Langsamkeit, die daraus entsteht, dass man Sachen wirklich ganz richtig machen möchte.“
Was nimmt Riedel von gescheiterten Innovationen mit? „Sie zeitigen Lerneffekte“, fasst er zusammen. „Mit einer Analyse erfährt man rasch, was schieflief. Oft erfahre ich dann, dass es mit diesem oder jenem Mindset nicht klappen konnte, weil schon vorher 1000 Fehler gemacht worden sind.“ Die „MicroGap Ethiopia“ sei ein persönliches Moonshot-Projekt, seine Vision, dass die Lebensumstände von 100 Millionen Menschen in armen Ländern nachhaltig verbessert werden. „Die Chance, dass ich da nah herankomme, ist natürlich verschwindend gering. Wenn es am Ende 100.000 Menschen sind, deren eigene Leben und die ihrer Kinder nachhaltig verbessert worden sind, war ich dann erfolgreich?“