Warum die Transformation unserer Ernährungssysteme unerlässlich ist
Derzeitige Krisen verdeutlichen die Notwendigkeit der Transformation von Ernährungssysteme. Dr. Sinclair, Teamleiter des HLPE-Berichts des Welternährungssicherheitsausschusses, stellt 13 agrarökologische Prinzipien vor, die einen Wandel bewirken können.
Das globale Ernährungssystem ist zerrüttet und bedarf einer tiefgreifenden Transformation. Ein solcher Wandel muss für die Menschheit höchste Priorität haben: Zum einen ist die Mangelernährung ein weit verbreitetes Problem – derzeit leiden viele Menschen Hunger oder sind gezwungen, sich einseitig zu ernähren, während die Anzahl der übergewichtigen Menschen rasant steigt. Zum anderen zählt die Landwirtschaft zu den Hauptursachen für den Klimawandel, die Bodendegradierung und den Verlust an Wasserressourcen und Biodiversität, wird jedoch auch von allen diesen Faktoren stark beeinflusst. Die herkömmlichen Methoden, die in den Agrar- und Ernährungssystemen Anwendung finden, sind weder nachhaltig noch gerecht. Da sie in hohem Maß für die Überbeanspruchung der Kapazitäten unseres Planeten verantwortlich sind, gefährden sie vielmehr die globale Nachhaltigkeit.
Nachdem sich die globale Ernährungssicherheit über mehrere Jahrzehnte hinweg positiv entwickelt hatte, kam es in den letzten Jahren erneut zu einem Abschwung – noch bevor sich die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bemerkbar machten. Seit 2014 hat die Unterernährungsrate kontinuierlich zugenommen und weltweit 8,9 Prozent erreicht. Die Verteilung ist jedoch ungleichmäßig, da die Anzahl der Hunger leidenden Menschen in Afrika mit 19,1 Prozent überproportional hoch ist. (FAO, IFAD, UNICEF, WFP und WHO, 2020) Das bedeutet, dass bereits vor COVID-19 weltweit 690 Millionen Menschen Hunger leiden mussten. Und Schätzungen zufolge wird die Pandemie dieses Problem insbesondere in Afrika massiv verschärfen. (FAO, 2020) Herkömmliche Ernährungssysteme stellen keine adäquate Ernährung und gerechte Nahrungsmittelverteilung sicher.
Schätzungen zufolge werden 21 bis 37 Prozent der Gesamtmenge an Treibhausgasemissionen von Ernährungssystemen verursacht,
unter anderem von der landwirtschaftlichen Produktion (9 bis 14 Prozent), der Landnutzungsänderung (5 bis 14 Prozent) sowie der Lagerung, dem Transport, der Verpackung, der Verarbeitung, dem Einzelhandel und dem Verbrauch einschließlich Verlusten und Abfällen (5 bis 10 Prozent). (Mbow u.a., 2019) Mit dem Zuwachs der Weltbevölkerung stieg auch der Lebensmittelbedarf ab 1961 rasant an. Dies hat zu einem erheblich intensiveren Einsatz von Stickstoffdüngemitteln (Erhöhung um ca. 800 Prozent) sowie einer stärkeren Nutzung der Wasserressourcen für Bewässerungszwecke (Erhöhung um mehr als 100 Prozent) geführt. Der heutige Klimawandel gefährdet die Ernährungssicherheit durch die Erhöhung der Häufigkeit und des Schweregrads von Dürren und Überschwemmungen, durch das veränderte Auftreten von Pflanzenkrankheiten und Schädlingsbefällen sowie durch die veränderte Eignung der Terroirs für den Anbau bestimmter Nutzpflanzen. Herkömmliche Ernährungssysteme tragen erheblich zum Klimawandel bei und müssen schleunigst an dessen Folgen angepasst werden.
Es wird geschätzt, dass ca. 25 Prozent der weltweiten landwirtschaftlich nutzbaren Fläche von Bodendegradation betroffen ist und dass die Menschen in Entwicklungsländern die Auswirkungen dieses Phänomens am stärksten zu spüren bekommen. (Olsson, L. u.a., 2019) Bodenerosion und die Verringerung des Gehalts von organischem Kohlenstoff im Boden sind zwei Prozesse, die schnell auftreten, sich jedoch nur langsam umkehren lassen. Sie beeinträchtigen die Struktur und das Wasserspeichervermögen des Bodens und beeinflussen zudem die Biota. Mit dem Klimawandel geht die Erhöhung der Temperaturen sowie der Häufigkeit und des Schweregrads von Dürren und Überschwemmungen einher, was die Bodendegradation verstärkt. Da für die Bewässerung große Mengen an Grund- und Oberflächenwasser benötigt werden, sinkt der Grundwasserspiegel vielerorts. Zudem werden zahlreiche Wasserläufe mit Nährstoffen und verschiedenen toxischen Stoffen verunreinigt, die aus dem übermäßigen Einsatz von in den Boden sickernden Düngemitteln und Pestiziden stammen. Herkömmliche Agrar- und Ernährungssysteme brauchen die natürlichen Ressourcen, von denen sie abhängig sind, häufig auf. Infolgedessen mangelt es solchen Systemen per se an Nachhaltigkeit.
Die neuesten Auswertungen zeigen, dass 64 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche weltweit (ca. 24,5 Millionen Quadratkilometer) von einer Verschmutzung durch Pestizide gefährdet ist, die der Wasserqualität, der Biodiversität sowie der menschlichen Gesundheit schadet. (Tang, F.H.M. u.a., 2021) Die Landwirtschaft ist ein wesentlicher Treiber für den beispiellosen Verlust an Biodiversität: Derzeit sind gut eine Million Arten vom Aussterben bedroht, es kommt zu immer schnellerem Artensterben und die Rate der durchschnittlichen Vielfalt an natürlichen Arten ist in den meisten Lebensräumen auf dem Land im Laufe der letzten hundert Jahre um mindestens 20 Prozent gesunken. (IPBES 2019) Die jährlichen Investitionen in den landwirtschaftlichen Anbau in Höhe von bis zu 577 Milliarden US-Dollar sind durch das Risiko fehlender Bestäuber gefährdet. Herkömmliche Agrar- und Ernährungssysteme haben einen katastrophalen Verlust an Biodiversität verschuldet, welcher der Landwirtschaft schadet und den Kreislauf des Ökosystems beeinträchtigt.
Die Situation ist äußerst prekär: Mehrere globale Krisen greifen ineinander und schaffen eine Spirale der Degradation, während die Menschheit mit der Handhabung derart komplexer Probleme überfordert ist.
Es ist offensichtlich, dass wir ganzheitliche, sektorenübergreifende Lösungen benötigen, die für verschiedene Skalierungen funktionieren. Nur so lassen sich die zerrütteten Ernährungssysteme wieder reparieren. Zu den wichtigen Sektoren zählen Landwirtschaft, Umwelt, Wasser, Energie und Handel; die Skalierungen umfassen das Feld, den Bauernhof, die Landschaft, den Staat und den gesamten Planeten, wobei sich globale Konventionen über den Klimawandel (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC, Klimarahmenkonvention), die Biodiversität (Convention on Biological Diversity, CBD, Biodiversitätskonvention) und die Bodendegradation (United Nations Convention to Combat Desertification, UNCCD, Konvention der Vereinten Nationen zur Bekämpfung der Wüstenbildung) vorwiegend mit dem letztgenannten Parameter befassen.
Die Ernährungssysteme, die aus den Elementen Produktion, Lagerung, Verarbeitung, Transport, Verkauf und Verzehr von Lebensmitteln bestehen, unterliegen dem Einfluss dieser drei globalen Konventionen und haben umgekehrt auch große Auswirkungen auf sie. Diese Aktivitäten operieren nicht in einer einfachen, linearen Sequenz, sondern interagieren miteinander und unterstehen Richtlinien, die für sie Impulse schaffen oder ihre Funktion regulieren. Letzten Endes sind es die Verbraucherentscheidungen, die die Produktionsnachfrage antreiben. Ein Praxisbeispiel für den Mechanismus solcher Interaktionen: Da die Menschen in China wohlhabender wurden und mehr Schweinefleisch verzehren wollten, erhöhte sich die Nachfrage nach der Erzeugung von Schweinefleisch entsprechend.
Dieser Trend führte dazu, dass die Landwirt*innen in Nordwestvietnam auf Anreiz der Regierung auf einst bewaldeten Hängen Mais in Monokultur anbauten, um die Ernte als Schweinefutter zu exportieren. Die Folgen der neuen Flächenbewirtschaftung waren eine weitläufige Bodenerosion, die von intensiveren Regenfällen verstärkt wurde, und ein Verlust an Biodiversität. Dieses Beispiel zeigt, wie Verbraucher- und Produktionsentscheidungen mit dem Klimawandel und dem Handel interagieren und eine Kettenreaktion auslösen, die Auswirkungen auf die Lebensmittelversorgung, die Nachhaltigkeit der Lebensmittel und die Umwelt hat. Derzeit wird die Agrarlandschaft in Nordwestvietnam einem agrarökologischen Wandel unterzogen: Die Politik strebt nun eine Zusammenarbeit mit den Landwirt*innen an und fördert die Konturbepflanzung sowie die Agroforstwirtschaft, unter anderem durch den Anbau wertvoller heimischer Obstbaumarten, deren Früchte in expandierenden Märkten gefragt sind.
Es ist offensichtlich, dass ein transformativer Wandel erforderlich ist, um nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme zu entwickeln,
und dass er für bestimmte Vorschriften und Einzelinteressen, die herkömmliche Agrar- und Ernährungssysteme stützen und mit ihnen verknüpft sind, eine Herausforderung darstellen wird. Der Schweregrad der ineinandergreifenden Krisen im Zusammenhang mit Ernährungssystemen bedeutet, dass eine inkrementelle Veränderung nicht ausreichend ist. Stattdessen muss eine fundamentale, systemweite Umstrukturierung erfolgen, welche technologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte sowie die Governance berücksichtigt. Agrarökologische Ansätze schließen ein alternatives Paradigma für herkömmliche Agrar- und Ernährungssysteme mit unterschiedlichen Zielen, Werten und Denkkonzepten mit ein. (HLPE 2019) Diese wurden zu 13 generischen agrarökologischen Prinzipien zusammengefasst, die bei ihrer Anwendung mittels partizipativer Prozesse unter Einbindung der lokalen Stakeholder die Diversität agrarökologischer Verfahren fördern und somit dem kulturellen und ökologischen Kontext vor Ort zugutekommen. (Wezel, A., u.a., 2020)
Sieben dieser Prinzipien betreffen primär das Management von Agrarökosystemen zugunsten einer Landwirtschaft, die im Einklang mit der Natur existiert und Resilienz fördert: die Vermeidung umweltschädlicher Inputs; Recycling; die Nutzung und Erhaltung der Biodiversität; Synergien (Verwaltung von Interaktionen zwischen den einzelnen Komponenten); wirtschaftliche Diversifikation; und die Sicherstellung von Tier- und Bodengesundheit. Die restlichen sechs Prinzipien richten sich an die Ernährungssysteme in ihrer Gesamtheit und sind für das Katalysieren und den Erhalt eines transformativen Wandels unerlässlich: gemeinsames Schaffen und Teilen von Wissen; Governance für den Boden und die natürlichen Ressourcen; Konnektivität (insbesondere zwischen den Produzent*innen und den Verbraucher*innen); soziale Werte und Diäten; Fairness; sowie Mitwirkung (im Hinblick auf die Stellvertreter*innen von Produzent*innen, Verbraucher*innen und sämtlichen sonstigen Akteuren in den Ernährungssystemen). Die Notwendigkeit einer gleichzeitigen Anwendung dieser Prinzipien hat zur Etablierung der Agrarökologie als einer Wissenschaft, einer Gesamtheit entsprechender Verfahren und einer Reihe sozialer Bewegungen geführt. Ein weitläufiger transformativer Wandel kann nur dann stattfinden, wenn diese drei Manifestationen zusammenwachsen und miteinander interagieren.
Die Implementierung der agrarökologischen Prinzipien erfordert eine fundamentale Veränderung der Wissenschaft, der Politik und der Methoden.
Die Forschung muss neu konfiguriert und erweitert werden, um das einheimische, lokale Wissen in gebührendem Umfang einzubeziehen. Dieses Vorgehen impliziert das Bedürfnis nach einer disziplinübergreifenden, lösungsorientierten Wissenschaft, die sich auf die Probleme der echten Welt konzentriert, Stakeholder und ihr Wissen miteinbezieht und reflexive Methoden anwendet, die sich an den Kontext anpassen lassen. Die Notwendigkeit einer solchen Wissenschaft ist augenfällig, wenn man bedenkt, dass die vor Kurzem durchgeführte globale Auswertung landwirtschaftlicher Forschungsergebnisse offenbarte, dass mehr als 95 Prozent der Forschung für Kleinbäuer*innen nicht relevant ist, obwohl 83 Prozent der Bauernhöfe weltweit weniger als zwei Hektar groß sind. (Nature 2020)
Ebenso wichtig ist eine Reform der Politik zwecks Entfernung entsprechender Hindernisse, zum Beispiel von Subventionen für chemische Düngemittel, die herkömmliche Landwirtschaftsmethoden verankern, sowie zwecks Erarbeitung neuer Richtlinien, um die Agrarökologie zu fördern. Solche neuen Richtlinien könnten Maßnahmen für die Beseitigung von Einschränkungen beinhalten, zum Beispiel durch finanzielle Unterstützung während des Zeitraums ab der Investition in agrarökologische Verfahren bis zum Eingang von Einnahmen. Auf diese Weise würde man sicherstellen, dass die Verbraucher*innen bei Einkaufsentscheidungen ihre Präferenzen für nachhaltig und fair produzierte Lebensmittel zum Ausdruck bringen können. Die vielleicht größte Herausforderung stellt die Notwendigkeit dar, mithilfe lokaler Aktivitäten einen globalen Unterschied zu machen. Dies erfordert effiziente Methoden für die skalierte Unterstützung der lokalen Innovation durch die Einbettung von Forschungserkenntnissen in Entwicklungsinitiativen. Eine solche Wirkung lässt sich schneller erzielen, wenn die Heterogenität des lokalen Kontexts nicht mehr ignoriert, sondern berücksichtigt wird. Zu diesem Zweck müsste man sich vom Wunsch nach einer Patentlösung entfernen, um anhand der Optionen eines kontextuellen Paradigmas zu verstehen, was wo und für wen funktioniert. (Sinclair, F. und Coe, R. 2019)
Die Transformation von Ernährungssystemen ist unerlässlich, wenn wir globale Herausforderungen meistern wollen. Obwohl eine solche Transformation nicht leicht umzusetzen sein wird, verbreitet sich zunehmend die Erkenntnis, dass sie den Aufwand wert ist, um den Bedürfnissen der heutigen und zukünftigen Generationen nachkommen zu können.