Warum braucht erfolgreiche Transformation eine starke Governance?
Die Sonderinitiative Eine Welt ohne Hunger (SEWOH) ist der Versuch einer Gebernation, die Erreichung von SDG 2 entscheidend voranzubringen. Beobachtungen und Schlussfolgerungen aus dem begleitenden Diskurs zur SEWOH.
António Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN), hat im Sommer 2019 wegen der steigenden Zahl von hungernden Menschen Alarm geschlagen. Ein „World Food Systems Summit“ (UNFSS) im Herbst 2021 soll dem Thema Hungerbekämpfung und Nachhaltigkeit die notwendige öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen und neue Impulse für einen Wandel des gesamten Ernährungssystems setzen.
Bereits 2014 hat Gerd Müller als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit der SEWOH einen bemerkenswerten Versuch unternommen. Die Idee: Mit einem sektoral ausgerichteten, von zunächst einer Gebernation getriebenen Ansatz das Nachhaltigkeitsziel 2 (SDG 2) entscheidend voranbringen. Dazu ist Deutschland mit einem Investment von rund 1,5 Milliarden Euro zum weltweit zweitgrößten Geber in den Bereichen Ernährungssicherung, ländliche Entwicklung und Landwirtschaft aufgestiegen. Die Initiative hat neue Wege erkundet, aber auch ihre Grenzen aufgezeigt bekommen. Und – entscheidend verschärft durch die Covid-19-Pandemie – sehr deutlich die Verletzbarkeit der globalen Ernährungssicherheit aufgezeigt.
Entwicklungszusammenarbeit (EZ) kann mit ihren öffentlichen Finanzmitteln nur ein Baustein bei der Transformation der globalen Ernährungssysteme sein. Aber die EZ kann und muss dazu beitragen, Ernährungssicherheit insbesondere für die bisher benachteiligten Gruppen sowie die erforderliche Transformation der Ernährungssysteme in Richtung Nachhaltigkeit zu verbinden. Sie kann Anstöße geben, die von den Märkten und vielen nationalen Regierungsprogrammen so nicht kommen und eine Vielzahl von profunden Ergebnissen und Lernerfahrungen beitragen. Besonders bewährt hat sich in der SEWOH der breite Ansatz: Ernährungssicherung, der Schutz natürlicher Ressourcen, starke organisierte Bäuerinnen und Bauern, leistungsfähige Genossenschaften, innovative Wertschöpfungsketten, gesicherte Landrechte, die Förderung von Start-ups und Kleinunternehmen, Einkommen, Beschäftigung und die Förderung von Frauen sind jeweils nur ein Teil des Spektrums. Denn es gibt keine einfachen Lösungen, jede Verengung auf nur einen Aspekt wie etwa die Effizienz der Agrarproduktion wird der Komplexität des Problems nicht gerecht.
Warum ist Governance der Schlüsselbegriff?
Ein wichtiger Erfolgsfaktor für die SEWOH war die frühzeitige und umfassende Einbindung vieler relevanter Stakeholder aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Verbänden, Wissenschaft, Politik und Durchführungsorganisationen in einem regelmäßig tagenden Strategischen Begleitkreis. Dabei hat es der Begleitkreis geschafft, Formen zu finden, in denen der Austausch auch zu kontroversen Themen stattfinden konnte. Inhaltliche Übereinstimmung war keine Voraussetzung. Es ging auch dann respektvoll und konstruktiv um die Sache, wenn die unterschiedlichen Auffassungen deutlich benannt wurden. Damit konnten auch neue Gemeinsamkeiten bei entscheidenden Themen herausgearbeitet werden. Eines davon war der Dialog über die Erfordernisse und Herausforderungen im Bereich Governance der Welternährung.
Doch die Möglichkeiten einer Initiative wie der SEWOH sind begrenzt. Einerseits weil der politische Wille der Partnerregierungen letztlich entscheidend ist und andererseits, weil die globale Gebergemeinschaft durch den Ausfall von Schlüsselakteuren wie den USA, aber auch durch die Brexit bedingten Veränderungen in der EU, ohnehin geschwächt war und ist. Diese Ausfälle konnten durch die SEWOH nicht kompensiert werden. Das Fehlen dieser Ansprechpartner für die Debatte über die Weiterentwicklung der Governance der globalen Ernährungssysteme war stark bemerkbar. Die Erkenntnis, dass die Governance der globalen Ernährungssysteme neu ausgerichtet werden muss, war eine der zentralen und so nicht geplanten Ergebnisse der SEWOH. Dazu braucht es neue Antworten und Ansätze: lokal, national und europäisch, vor allem aber auf globaler Ebene. Der Aufruf von António Guterres kommt daher zum richtigen Zeitpunkt.
An Gipfeltreffen und Beschlüssen zu Hunger und Nachhaltigkeit hat bisher kein Mangel geherrscht. Warum also gibt es noch Hunger? Ohne eine solide Analyse des mangelnden Fortschritts besteht die Gefahr, dass mit dem neuen Gipfel weitere Zeit verloren wird – und damit auch Vertrauen in das VN-System; oder – je nach Betrachtungsweise – Zeit zum Weiter-So im alten System gekauft wird.
Welche Chancen bietet der VN Gipfel?
Der UNFSS kann notwendige strukturelle Änderungen einleiten, so dass alle Menschen im Jahr 2030 Zugang zu gesunder und ausreichender Nahrung haben und die Nachhaltigkeit der Nahrungsmittelproduktion sichergestellt ist. Was also muss durch die Staats- und Regierungschefs beschlossen werden? Welche Veränderungen der Governance sind erforderlich?
Um erfolgreich sein zu können, muss der Gipfel
- in seiner Vorbereitung aufzeigen, warum die Bekämpfung des Hungers bisher nicht erfolgreich war;
- die Klimakrise und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen in eine neue effektive Strategie zur Hungerbekämpfung einbeziehen;
- festlegen, mit welcher Governance die erforderliche Transformation des Ernährungssystems einzuleiten ist.
Vielen Staaten fehlt es am politischen Willen, den Hunger endgültig auszurotten. 1948 wurde das Menschenrecht auf Nahrung in der Allgemeinen Erklärung zu Menschenrechten erwähnt und 1976 im VN-Sozialpakt völkerrechtlich verankert. Menschen müssen danach entweder über Ressourcen verfügen, um ausreichend Nahrung produzieren zu können, oder genug Geld haben, um Lebensmittel zu kaufen.
Warum basiert alles auf dem Recht auf Nahrung?
Der menschenrechtliche Rahmen ist zentral, denn er lenkt den Blick auf staatliche Verpflichtungen und die Verantwortlichkeiten aller anderen Akteure. Der größte Teil der Hungernden lebt in ländlichen Regionen. Der Zugang zu Nahrungsmitteln von über 500 Kleinbauernfamilien und damit von mehr als 2,5 Milliarden Menschen hängt davon ab, dass diese selbst ihr Familieneinkommen über die Landwirtschaft erzielen. In Ermangelung von Sozialhilfegesetzen in vielen Teilen der Welt ist es vor allem eine Frage des sicheren Zugangs zu produktiven Ressourcen wie Land oder Saatgut, die zentral dafür ist, ob Familien genug Nahrungsmittel selbst produzieren oder ein existenzsicherndes Einkommen aus der Landwirtschaft erzielen können. Hinzu kommen hundert Millionen Pastoralisten- und Fischerfamilien. Die Rahmenbedingungen für diese Gruppen sind entscheidend dafür, zu erklären, warum Hunger so persistent ist. Landnutzungszugänge sind oft nicht abgesichert. Unterstützung für Kleinbauernfamilien fehlt meist gänzlich, angefangen von Wetterinformationsdiensten, Hilfe bei der Lagerhaltung, Zugang zu Agrarberatungsdiensten und Bankdienstleistungen. Angehörige von Minderheiten, Frauen und Haushalte, die von Frauen geführt werden, sind besonders betroffen.
2003 hatten sich die Staaten der Afrikanischen Union darauf verständigt wenigstens zehn Prozent ihrer nationalen Budgets für ländliche Entwicklung auszugeben. Bis heute haben knapp zehn Länder diesen Betrag erreicht. Die Vernachlässigung ländlicher Räume in der nationalen Politik ist der Schlüssel dazu, warum die Gruppe der bäuerlichen Familienbetriebe weltweit 70 Prozent der Hungernden ausmacht. Die Staatlichkeit, die Institutionen in ländlichen Regionen funktionieren nicht ausreichend. Die Betroffenen können deshalb gut als marginalisiert bezeichnet werden. Der Begriff Resilienz muss deshalb unbedingt funktionierende, verantwortliche Regierungsfähigkeit umfassen und dabei menschenrechtlich verstanden werden - als Überwindung von Diskriminierung und Exklusion.
Sind unter diesen Bedingungen ländliche Regionen in einem Land besonders vom Klimawandel betroffen, erhalten Fragen der Governance eine zusätzliche Bedeutung. Gruppen, die ohnehin nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit nationaler Politik standen, sind jetzt besonders den Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt. Die Qualität nationaler Anpassungspolitik bestimmt deshalb wesentlich, wie diese bearbeitet und abgefedert werden können. Gerade in Regionen, die in zunehmendem Maße durch den Klimawandel von Katastrophen betroffen sind, ist das Vorbereitet sein und die Qualität staatlicher Unterstützung entscheidend. Resiliente Ernährungssysteme müssen insbesondere für marginalisierte Gruppen und Individuen funktionieren und speziell auf deren Schutz und Unterstützung ausgerichtet sein.
Weshalb sind Staaten rechenschaftspflichtig?
Hunger und Fehlernährung entsteht aber bei weitem nicht nur im Kontext von Familien und Individuen in ländlichen Regionen oder bei solchen, die Nahrungsmittel auch für sich selbst produzieren. Hunger und Unterernährung korreliert mit Einkommensarmut sowie fehlenden Möglichkeiten, Nahrungsmittel selbst zu produzieren oder ein entsprechendes Einkommen zu erzielen. Ein zentraler Teil von resilienten Ernährungssystemen ist es deshalb auch, über Transfereinkommen und Beschäftigung nachzudenken. Das trifft insbesondere dort zu, wo Einkommensarmut der Grund für Mangelernährung und Hunger sein könnte, also gerade in den wachsenden Armutsquartieren in städtischen Kontexten.
Es ist die Rechenschaftspflichtigkeit staatlichen Handelns, die im Zentrum der menschenrechtlichen Überlegungen steht. Diese beziehen auch das Handeln anderen Akteure mit ein. Staaten haben eine Schutzpflicht, private Akteure so zu regulieren, dass diese nicht zu Verletzungen des Rechts auf Nahrung beitragen. Private Akteure haben aber auch selbst eine Verantwortlichkeit – und dies wurde mit der einstimmigen Verabschiedung der VN-Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechte 2011 im Menschenrechtsrat bekräftigt: sie haben die Verantwortung sicherzustellen, dass ihr eigenes Handeln nicht zu Verletzungen von Menschenrechten beiträgt ("do no harm"). Staatliche und private Rechenschaftspflicht muss im Zentrum der Resilienz von Ernährungssystemen stehen. Viele Veränderungen, die notwendig wären, sind längst bekannt. Mangelhaft ist die Umsetzung beziehungsweise der Verzicht vieler Regierungen, sich gerade um die zu kümmern, die besonders von Hunger und Fehlernährung betroffen sind. Das ist der Grund, warum das Recht auf Nahrung so zentral ist für die Reform und die Resilienz von Ernährungssystemen und erklärt gleichzeitig, warum es gerade bei der Umsetzung des SDG 2 so große Defizite gibt.
Warum ist Armut das zentrale Problem und billige Lebensmittel nicht die Lösung?
Global gesehen hat die Produktion von Lebensmitteln mit dem Wachstum der Bevölkerung Schritt gehalten. Niemand müsste heute Hunger leiden, es ist genügend Nahrung für alle da. Doch nicht nur die Menge und Qualität der vorhandenen Nahrung sind wichtig, sondern insbesondere ihre Verteilung sowie die Ernährungspraxis. Armut und nicht Knappheit an Lebensmitteln ist die zentrale Ursache für Hunger. Corona hat dies auf tragische Weise bestätigt. Durch Konflikte, ökonomische Schocks und fehlende Sozialpolitik kann Armut kurzfristig neu entstehen und der Zugang zu Lebensmitteln wird erschwert.
Die bisherige Strategie lautete: „lasst uns mehr und vor allem billigere Lebensmittel produzieren“.
Dies wiederum hat weitreichende individuelle und gesellschaftliche Konsequenzen: „Billige“ Lebensmittel werden oftmals mit sehr hohen externen Kosten produziert: sie führen zu Fehlernährung durch „leere“ Kilokalorien“, also ohne ausreichend Nährstoffe, und enden mit der Zerstörung von sozialen Strukturen in den ländlichen Regionen. Nicht nachhaltige Landwirtschaft verarmt Böden und zerstört Artenvielfalt. Bäuerinnen und Bauern erhalten auf den Märkten nur geringe Erlöse für ihre Produkte. Viele von ihnen leben in Armut, obwohl sie den Großteil der Lebensmittel produzieren. Landarbeiter:innen und insbesondere Arbeitsmigrant:innen in der landwirtschaftlichen Produktion tragen hohe Gesundheitsrisiken für miserable Bezahlung. Billige Lebensmittel sind durch die Externalisierung von hohen Umwelt- und Gesundheitskosten für die Gesellschaft sehr teuer, während Bäuerinnen und Bauern und andere Arbeitskräfte in Armut leben. Der Versuch, Armut durch Dumpingpreise von Lebensmitteln zu bekämpfen und Naturzerstörung sowie miserable Arbeitsbedingungen damit zu rechtfertigen, ist seit langem gescheitert. Die Antworten auf Armut lauten gute Jobs und Sozialpolitik! Ja, wir brauchen existenzsichernde Einkommen, Gerechtigkeit in der Lieferkette und im Welthandelssystem. Das Wort Umverteilung darf in den Mund genommen werden. Wo ist der gesellschaftliche Gewinn, wenn sich in der Lebensmittelkette der Gewinn immer mehr im Bereich der Onlinelieferanten und internationalen Firmen akkumuliert und die landwirtschaftlichen Betriebe und das Naturkapital immer mehr unter Druck geraten?
Wieso muss die Klimakrise die Lösung prägen?
Ein nachhaltiges globales Ernährungssystem muss sich zudem den Herausforderungen einer sich verschärfenden Klimakrise und des ungebremsten Zerstörens von natürlichen Ressourcen stellen.
- Die Klimakrise muss die Lösungsstrategien prägen. Die Ernährungssysteme der Zukunft müssen weitestgehend klima-neutral sein und angepasst an einen heißeren Planeten mit extremen Wetterereignissen. Dazu braucht es Leitlinien.
- Die intensive Landwirtschaft ist einer der Hauptreiber für die Degradierung der natürlichen Ressourcen, von Böden, Wasser und Wald. Dazu gehört auch der Verlust an Sortenvielfalt von Getreide und Gemüse (Agrobiodiversität), die besser an den jeweiligen Standort angepasst sind und den kulturellen Gewohnheiten der Menschen entsprechen. Während der Markt für Hybridsaatgut durch weitreichende rechtliche Regelungen abgesichert und hoch profitabel ist, gehen täglich wertvolle agrar-genetische Ressourcen verloren.
- Die durch die weltweite Corona-Pandemie verursachte globale Wirtschaftskrise wird Armut und Hunger weiter verschärfen. Zur Bekämpfung der Krise wurden weltweit massive Finanzprogramme aufgelegt – finanzielle Mittel waren hier also vorhanden. Die im letzten Jahr vorgestellte Studien von CERES 2030, vom Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn und von der FAO belegen, das jährlich rund 14 Mrd. US-Dollar für das G-7 Ziel nötig wären, bis 2030 500 Millionen Menschen aus Hunger und Fehlernährung zu befreien. Um den Hunger bis 2030 ganz zu beseitigen, wären jährlich rund 40 Milliarden US-Dollar erforderlich.
Wie können lebenswerte ländliche Räume geschaffen werden?
Die Bevölkerung der Erde wächst, am schnellsten in Afrika. Bis 2050 werden auf dem afrikanischen Kontinent mehr als zwei Milliarden Menschen leben, fast doppelt so viele wie heute. Zwei Drittel der Menschen in Afrika leben auf dem Land. Dieser Anteil wird schrumpfen, aber die absolute Anzahl der Menschen in ländlichen Regionen wird weiter stark ansteigen. Millionen von jungen Menschen auch dort Perspektiven auf Einkommen und Beschäftigung zu sichern ist eine zentrale Aufgabe. Das viele, gerade junge Menschen in den kommenden Jahren eine Zukunft in den schnell wachsenden Megacities suchen werden, löst die Probleme der ländlichen Räume nicht. Sicher, einige von ihnen werden in der Stadt ein besseres Leben finden, viele aber auch in den Slums am Rande der Metropolen stranden.
Umso wichtiger ist es, die kleinen und mittleren Städte in ländlichen Regionen zu stärken. Sie können verhindern, dass das Ausscheiden aus der Landwirtschaft gleichbedeutend ist mit Abwanderung aus den ländlichen Regionen. Sie können zu Zentren dezentraler Vernetzung von Produktion, Verarbeitung und Vermarktung über lokale und regionale Wertschöpfungsketten werden. Dadurch ergeben sich Möglichkeiten zur Erwerbskombination von klassisch landwirtschaftlicher Tätigkeit mit oftmals eng verknüpften außerlandwirtschaftlichen Aktivitäten in der Ernährungswirtschaft oder im Dienstleistungssektor.
Eine zentrale Vision der SEWOH ist es, die Schaffung lebenswerter ländlicher Räume zu fördern. Dazu muss der enge sektorale Fokus auf die Landwirtschaft erweitert werden zur räumlichen, ländlichen und regionalen Perspektive. Ein solcher territorialer Politik- und Förderansatz spielt nicht Stadt gegen Land aus, sondern begreift kleine und mittlere Städte als Kraftzentren, gerade auch der ländlichen Regionen und Ökonomien.
Nur wenn die gut ausgebildeten, kreativen und hoch motivierten jungen Menschen den ländlichen Räumen erhalten bleiben, haben diese Regionen eine Zukunft.
Können Innovationen und Digitalisierung die Lösung sein?
Mehr Nahrungsmittel mit mehr Ressourcenverbrauch zu produzieren, ist keine Option. Innovationen – eine Ressource, die unbegrenzt und klimaneutral verfügbar ist – sind deshalb ein Schlüsselbegriff der SEWOH. Innovationen können Erträge steigern, den Ressourcenverbrauch verringern und gleichzeitig Perspektiven und Arbeitsplätze schaffen. Doch damit sich die Lebensbedingungen von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, sowie Landarbeiter:innen wirklich verbessern, müssen Innovationen Zugänge und reale Machtstrukturen berücksichtigen. Naiver technologischer Fortschrittsglaube hilft dabei ebenso wenig wie die pauschale Ablehnung von Innovationen, die potenziell Entwicklungssprünge ermöglichen können.
Die Art und Weise, wie die weitreichenden Möglichkeiten der Digitalisierung zurzeit in der Ernährungswirtschaft eingesetzt werden, bringt sicher eine Reihe von Vorteilen. Sie beschleunigt bestimmte Prozesse wie Zahlung, Versicherung und Information oder die Effizienz der Abwicklung und Steuerung von komplexen Prozessen. Dennoch ist die Frage berechtigt: Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung? Wenn sich Forschung und Umsetzung damit beschäftigen, wie die Effizienz des bisherigen Systems erhöht werden kann, dann wird ein gescheitertes System effizienter, aber es wird keineswegs die erforderliche Transformation des bestehenden nicht-nachhaltigen Systems eingeleitet.
Warum muss staatliches Handeln faire Bedingungen schaffen?
Auch soziale Sicherung und Armutsbekämpfung müssen Teil der Transformation werden. Dazu ist staatliches Handeln erforderlich! Schließlich wird es schon jetzt nicht allein den Märkten überlassen, Ernährung und Landwirtschaft zu steuern: Subventionen, Regeln des Welthandels, internationale Verträge (etwa zu Saatgut), die Europäische Agrarpolitik, sanitäre und phytosanitäre Standards und vieles mehr bestimmen das Wirtschaftssystem. Sie nutzen allzu oft großen Agrar- und Ernährungskonzernen und nur selten der großen Mehrheit der kleineren Produzent:innen, Bäuerinnen und Bauern. Immerhin, das kürzlich verabschiedete deutsche Sorgfaltspflichtengesetz und die Pläne der EU zur Förderung entwaldungsfreier Lieferketten sind erste Schritte in die richtige Richtung.
Die Ökonomie des Ernährungssystems wird massiv durch falsche Anreize fehlgeleitet. Mehr als 600 Milliarden US-Dollar pro Jahr werden – vor allem im wohlhabenden Norden – für fragwürdige landwirtschaftliche Subventionen aufgewandt. So sind die Agrarmärkte eine komplexe Mischung gekennzeichnet durch:
- agrarmarkt- und preispolitische Vorgaben und strukturpolitische Interventionen,
- schwache Marktstellung von Bäuerinnen und Bauern, bei gleichzeitig wachsender Marktmacht großer (multinationaler) Konzerne,
- Import-/Exportzölle und strikte Regeln der Welthandelsorganisation,
- Warenterminspekulation mit Agrarrohstoffen,
- eine boomende Bioökonomie mit steigender Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen für andere Zwecke als die Ernährung,
- profitablen Investitionen in knappes Land.
Wieso lügen die Preise?
Bei einer Vollkostenrechnung wird deutlich, dass billige Lebensmittel sehr teuer sind: Natur-, Human- und Sozialkapital spielen in der Preisfindung keine Rolle. Zerstörung kostet nichts. Am Ende werden die hohen externalisierte Kosten „sozialisiert“, das heißt, der Steuerzahler kommt dafür auf. Und gerade die Ärmsten werden, zum Beispiel durch die Zerstörung des Naturkapitals, am stärksten in ihrer Entwicklung behindert.
Die wirklichen Kosten der Produktion von Lebensmitteln müssen deshalb eine wichtige Rolle in der Transformationsdebatte spielen. Eine wachsende Zahl von wissenschaftlichen Studien zum „True Cost Accounting“ (TCA) belegen die Fehlsteuerung des heutigen Preissystems. Die Konsequenz ist aber nicht, Lebensmittel einfach teurer und damit für die Armen unerschwinglich zu machen. Der Zugang zu gesunden Lebensmitteln muss verbessert werden. So werden auch neue Geschäftsmodelle, Einkommen, Beschäftigung und Arbeitsplätze entstehen, die wirtschaftliche Tätigkeit auf veränderten Märkten mit Nachhaltigkeit verbinden.
Nachhaltige Transformation braucht eine neue Governance!
Zur Transformation des heutigen Ernährungssystems ist Governance der Schlüssel- auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene. Dabei ist die Einbindung der unterschiedlichen Stakeholder sowie die Umsetzung der Beschlüsse und Strukturen zum Nachhalten ebenso wichtig wie politische Entscheidungen. Der UNFSS beschäftigt sich mit vielen Themen und wird in den Action Tracks sicherlich eine imponierende Zusammenstellung von best practices darbieten. Der Bereich der Governance, der die Grundlage für Transformation bietet, wird jedoch nicht dem Problemdruck entsprechend bearbeitet.
Welche Impulse sollten deshalb vom VN Food Systems Summit ausgehen?
- Der Gipfel muss Beschlüsse zur Armutsbekämpfung und zur sozialen Sicherung fassen, sonst wird es kein Ende des Hungers geben. In Krisenregionen muss humanitäre Hilfe und Konfliktbewältigung die Antwort sein.
- Das Menschenrecht auf Nahrung und die international vereinbarten Leitlinien zu dessen Erreichung müssen zur Leitschnur der Beschlüsse des Gipfels werden.
- Der Gipfel muss das zentrale Steuerungsproblem des komplexen und globalisierten Ernährungssystems angehen: Das System der Preisgestaltung und der Wertschätzung muss geändert werden, um die wahren Kosten des Ernährungssystems zu erfassen und neue Möglichkeiten zur Steuerung in Richtung Nachhaltigkeit zu nutzen. Auch hier gilt: „It’s the economy, stupid!“
- Es müssen Überlegungen präsentiert werden, wie die multilaterale Koordinierung zur Bekämpfung der Klimakrise, zum Stopp der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur effektiven Armutsbekämpfung in die globale Steuerung der Transformation des Ernährungssystems integriert werden kann. Es ist eine der zentralen Aufgaben der VN, sich über Fragen der globalen Governance zu verständigen. Eine Leistungsschau der Projekte von Zivilgesellschaft und Privatsektor mag zwar positive Beispiele beisteuern, wird aber keine strukturelle Transformation einleiten können. Bisher hat niemand erklärt, was auf diesem Gipfel beschlossen werden soll.
- Die koordinierte Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen muss Thema des Gipfels werden. Transformation und Krisenmanagement müssen sich ergänzen und nicht gegenseitig ausschließen. Aber die notwendigen Debatten über die Krise und die erforderlichen Problemlösungen dürfen nicht zu Lasten der eigentlich geplanten Agenda gehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Dringlichkeit des Augenblicks die Notwendigkeit für ein besseres Morgen überlagert.