Weg vom Gießkannenprinzip, hin zur Wirksamkeit
Um die Weltbevölkerung auch 2050 ernähren zu können, ist laut Jan Grossarth "die hohe Kunst der Governance" gefragt. Was diese Kunst beinhaltet und auf welche Herausforderungen sie stößt, hat er mit Unterstützung der SEWOH-Partner beleuchtet.
Überall ein bisschen Fortschritt, in vielen Tausend lokalen Projekten – aber was ist, wenn das angesichts der globalen Herausforderung nicht genügen wird? Afrikas Bevölkerung verdoppelt sich laut den UN-Prognosen bis 2050 auf mehr als zwei Milliarden Menschen. Dabei importiert der Kontinent schon heute mehr Lebensmittel, als er exportiert, versorgt sich also nicht selbst mit Nahrung. Klimaprognosen sagen für einige afrikanische (und asiatische) Regionen vorher, dass die Durchschnittstemperaturen dort um drei Grad oder mehr steigen werden. Die Wüsten breiten sich aus. Diese Aussicht legt nahe, dass eine Entwicklungszusammenarbeit, die Ressourcen nach dem Gießkannenprinzip verteilt, nicht wirksam genug ist.
Also ist politische Koordination gefragt, national und auch international. Und eine Priorisierung der Welternährungspolitik, vergleichbar mit der Klimapolitik. Diese Aufgabe ist aber ungleich komplizierter, da die UN-Ziele der Treibhausgas-Verringerung und der Mehrproduktion an Nahrungsmitteln durchaus miteinander konkurrieren.
Während der „Produktion“ und „Umwelt“ versöhnende Weg (Agrarökologie) klar aufleuchtet mitsamt der Erhöhung der Wertschöpfung, scheint zugleich die Frage nebulös, welcher Art der politische Kraftakt sein wird, der zur wirksamen Umsetzung führt. Denn statt Gießkannen bräuchte es technische und politische Quantensprünge, um Produktivität nachhaltig zu erhöhen, um das globale Ernährungssystem (gibt es das überhaupt oder sind es eher viele?) zur Nachhaltigkeit zu transformieren und um – drittens – die Kaufkraft der Armen im Süden zu erhöhen. Es bräuchte Milliardeninvestitionen, aber vor allem: politische Aufmerksamkeit.
Gefragt ist die hohe Kunst der „Governance“, der politischen Koordinierung unterschiedlicher Interessen, um eine gemeinsame Vision herum.
Diese variieren sowohl von Staat zu Staat, als auch von Provinz zu Provinz erheblich. Man kann wohl fragen, ob in vielen Staaten Afrikas und Asiens selbst die Welternährung, Ernährungssystemfragen wirklich eine hohe Priorität haben. Die lokalen Tageszeitungen in Subsahara-Staaten, immer stark interessiert an Landwirtschaft, verlieren sich meist in Ernteberichten, Statistikfragen über Dünger-Lieferungen, Wetterberichte und politisch verkitschtem Verbands-Gesäusel von rosiger Zukunft. Gibt es überhaupt eine große Bereitschaft in den Metropolen Afrikas die eigene Hunger-Problematik anzuerkennen?
Welternährung hat andererseits auch in den meisten industriell entwickelten Staaten der Welt nicht politische und mediale Priorität. Ursachen und Lösungswege sind zu vielschichtig, es gibt keine Massen mobilisierende „Schuld-Narration“ wie im Falle des Klimawandels oder globaler Umweltfragen. Aber die Medien funktionieren so nicht, schon gar nicht die „sozialen“ Medien. Eindeutigkeit hat Nachrichtenwert. Und auch an den Börsen, trotz des Boom-Themas „Green Finance“, interessiert Welternährung nachrangig. Nachhaltige Energien und Mobilität haussieren, aber nicht Anlagen in Agroforst-Plantagen. Politische Konzentration, politische Koordination auf dieses Thema erscheint illusorisch. Wie aber könnte ein solches „Momentum“ entstehen?
Jedenfalls nicht allein durch das Engagement von Fachpolitikerinnen, auch nicht allein durch die Arbeit von hunderten Wissenschaftlern, Bürgerinitiativen und Eine-Welt-Verkäufe. Es bräuchte wohl übergreifende Aufmerksamkeit, drastische Symbolik, Bilder oder Sprachbilder also, die das Ausmaß der drohenden Katastrophe erfahrbar machen – und die zugleich eine eigene Betroffenheit der Bürgerinnen und Bürger verdeutlichen. Das Problem der Hungerbekämpfung muss als Weltproblem klar werden, das heißt für den globalen Norden vor allem, als Menschenrechts- und Migrationsproblem.
Politische Momenta sind ein Mysterium. Es wirkt oft so, als komme ein Momentum, wann es wolle. Historische Ereignisse oder Bilder eines Themas addieren sich in der kollektiven Erinnerung. Manchmal löst ein weiteres dann plötzlich wegweisende politische Entscheidungen aus. Ein Beispiel ist der Klimaprotest von Greta Thunberg, der dem europäischen Green Deal vorausging, welcher die Klima- und Nachhaltigkeitspolitik zur politischen Priorität sondergleichen machte. Und plötzlich stand das große Ziel: Klimaneutralität der EU bis 2050. Umbau der Wirtschaft. Zwar marktwirtschaftlich, aber mit allen Hebeln des Ordnungsrechtes. Die Bilder der verlorenen Eisbären im schmelzenden Eis, all die Klimakonferenzen waren da nicht vergessen. Die „Ikone“ Greta aber hat dem Thema erst zum breiten Durchbruch verholfen, Widersprüche und Abwehrhaltungen durchbrochen. Dazu brauchte es Emotion, Betroffenheit, Appell, einen kindlichen Blick, dem sich nicht so einfach ausweichen lässt.
Kann es eine Greta der Welternährung geben? Und was sollte sie sagen? Die Gesichter des Hungers und der Unterernährung sind seit Jahrzehnten für unpolitische Spendenaktionen verbucht. Ausreichende und gesunde Ernährung für alle wird einfach viel mehr brauchen. Mehr Ernten, mehr Wachstum, mehr Handel. Alles im Einklang mit dem Ressourcenschutz. Soll die Greta der Welternährung sagen: „Transformiert das globale Ernährungssystem“? Ach.
Es scheint, als liege die Entwicklungspolitik in den Fesseln ihres eigenen Jargons, der wissenschaftlich ist, aber immer auch eine Spur zu technokratisch. So wird es nichts werden mit dem Momentum. Aber das Momentum kommt plötzlich und unerwartet, und es kam in Deutschland 2015, mit Millionen Syrern, Afghanen und Afrikanern, die plötzlich nach Deutschland migrierten. Sofort war Entwicklungspolitik „Top 1“ der politischen Tagesordnung. Die deutsche Bundesregierung erhöhte das Budget zur „Bekämpfung von Fluchtursachen“ des Entwicklungsministeriums um 80 Prozent. Danach ging es vermehrt um Innenpolitik.
Wenn sich ein dauerhaftes Momentum nicht „machen lässt“, so doch zumindest eine wirksamere Koordination der Interessen:
Governance. Das bedeutet: die Lenkung und Steuerung heterogener Interessen auf ein gemeinsames Ziel hin. Damit dies gelingt, benötigt es Intermediäre – Organisationen also, die zwischen Wissenschaft, Politik, Medien, Wirtschaft und Zivilgesellschaft vermitteln, moderieren, übersetzen, pointieren. Das ist in der Klimapolitik die Erfolgsgeschichte des „Weltklimarates“ IPCC. Er versteht sich selbst nicht als Wissenschaftsorganisation, sondern als eine, die der Wissenschaft eine Stimme gibt, die politischen Botschaften Prägnanz und „über-parteiliche“ Geltung verleiht. Der IPCC wirkt agiler als die von vielen staatlichen Interessen beeinflusste Welternährungsorganisation FAO. Der IPCC wirkte in dieser Rolle daran mit, dass eine „wissenschaftlich begründete“ Zahl politisch ins Zentrum der Weltklimapolitik rückte: das 1,5-Grad-Ziel. Einen IPCC für eine Welternährungspolitik gibt es aber nicht, und auch keine symbolische Zahl. Die 50 bis 70 Prozent Mehrproduktion, die laut FAO bis Mitte des Jahrhunderts nötig sein werden, sind nur Expertinnen geläufig. Beides, ein Welternährungs-IPCC und eine Welternährungs-Einskommafünf, wären wichtige Beiträge.
Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten der größte staatliche Geber von Entwicklungshilfe – aber kann ein Land allein Akzente setzen? Oder ist der große, autokratisch diktierte Industrialisierungspfad wirksamer, den China in Afrika aus hartem Eigeninteresse einschlägt? China gibt Milliardenkredite und baut in Großteilen Afrikas mit überwiegend eigenen Arbeitern Straßen, Schienen und Flughäfen. Darüber rollen Ernten und Rohstoffe, nicht zuletzt in Richtung China.
Westliche Konzepte von Governance setzen auf Lösungen, an denen viele Parteien mitwirken. Das ist nicht ein Schema-F, es gibt unzählig viele Definitionen. Ihnen gemeinsam ist der Ansatz, heterogene Interessen auf ein Ziel zu orientieren. „Ähnlich wie vor ihm 'politische Planung' oder 'politische Steuerung' ist der 'Governance'-Begriff in der Politikwissenschaft heute zu einem catch-all-word geworden“, schreibt der Soziologe Uwe Schimank von der Universität Bremen. Gesucht ist Ordnung, Priorisierung, Kohärenz jenseits der Organisationsformen „Hierarchie“ oder „Markt“.
Mit anderen Worten: Governance organisiert den nicht bloß geplanten, sondern kreativen Fortschritt.
Sie wahrt die Autonomie der Teilbereiche von Gesellschaft – Recht, Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion. Sie meidet die Stolperfallen der Desintegration durch Überforderung teilnehmender Parteien, aber auch der Überintegration („alle nur noch für ein Ziel“), die – soziologisch gesprochen – spezifische Stärken der Teilbereiche lähmt.
Ein konkretes und zentrales Beispiel sind Landrechte und Landpolitik. Dabei geht es um Eigentums-, Nutzungs- und Zugangsrechte, kurz um harte materielle Verteilungsfragen. Wenn hier die Koordination der Interessen nicht gelingt, sind im Grunde viele Gießkannen-Maßnahmen vergebens. Eigentumsrechte, Investitionsneigung und Entwicklung von Landwirtschaften und Dörfern sind eng miteinander verbunden. Eine wirksame Entwicklungspolitik setzt sichere Zugangsrechte zu Land und Ressourcen voraus. Solange Eigentums- und Nutzungsfragen unklar sind, kann der technische Fortschritt seine Wirkung nicht ganz entfalten. Der deutsche Politikberater Alexander Müller, der in vielen leitenden Funktionen für FAO und UN zu diesem Thema gearbeitet hat, sagt: „Ehe die Landrechte nicht geklärt sind, wird auch die Blockchain nicht die Probleme lösen.“
Die Lage ist beschämend: Laut einer Weltbankstudie von 2015 fehlt es drei Vierteln der Weltbevölkerung an formal-juristisch abgesicherten Landrechten. Für Afrika kursiert die Zahl von 90 Prozent und mehr (Weltbank 2013). Die Regel sind mündliche Vereinbarungen oder Traditionsrechte.
Es mangelt fundamental an Landregistern oder funktionierenden Bodenmärkten. All das müsste sich dringend ändern. Aber es mangelt von vielen Seiten am politischen Druck: Private Stiftungen sind oft eher technisch mit konkret gesundheitsbezogenen Themen wie dem Kampf gegen Krankheiten wie Malaria befasst, oder sozialpolitisch mit Erhöhungen der Schulbesuche. Im „Marshallplan mit Afrika“ des deutschen BMZ wird zwar auch eine Reform der Landrechte angemahnt, aber droht unter vielen anderen Punkten unterzugehen. Und wie steht es um die Motivationslage von Regierungen afrikanischer Staaten selbst? Haben sie Anreize, den harten Kampf um den kostbaren Boden mit einflussreichen Landbesitzern radikal anzugehen?
Governance für dieses Thema bedeutet zunächst, Interessen-Gemeinsamkeiten zu finden. Wer könnte mit im Boot sitzen? Welches Interesse an Landregistern hätten traditionelle Eliten oder ein Dorfvorsteher, der womöglich seine Entmachtung fürchtet? Die Bauern und ihre Organisationen wären bestimmt mit im Boot. Ressortpolitisch könnten die Allianzen für dieses Thema auch die Klima- und die Gleichstellungspolitik berühren. Denn geklärte Landrechte sind hoch korreliert mit nachhaltiger, das heißt auch klimafreundlicher Bewirtschaftung. Das ergab 2018 eine Meta-Studie von Daniel Higgins mit anderen vom „International Fund for Agricultural Development“. Demnach sind dort, wo Landrechte formalisiert sind, auch Frauen bessergestellt. Eine Vision könnte es sein, durch die Verbesserung der Landrechtsfrage wirtschaftliche Investitionsanreize, aber auch einen Beitrag zum Klimaschutz und zur Gleichstellung der Frau zu erreichen – letzteres mitsamt der Konsequenz sinkender Geburtenraten.
Governance basiert auf gemeinsamen Visionen, und diese sollen verhindern, dass sich die vielen Akteure im Kleinklein ihrer Interessen und Verlustängste verheddern.
Dieses Problem nennt 2013 auch die Weltbank, wenn sie schreibt: „Die Bemühungen, um Land-Governance zu verbessern, werden oft gelähmt von technischen Komplexitäten, institutioneller Fragmentierung, verschlungenen Interessen und dem Mangel einer gemeinsamen Vision.”
Ist die Vision formuliert und kommuniziert, entfaltet die Kooperation bestenfalls Wirkung. Ein Aufsatz von 2021 des Nachhaltigkeitsforschers Nicola Favretto von der Universität Leeds listet die Erfolgsfaktoren für ein Gelingen auf: Kooperation, Aufbau auf bestehenden Allianzen, Berücksichtigung des historischen Kontexts, neutrale Moderation, Transparenz und Verwendung digitaler Tools wie der Software Sensemaker. Denn „Sinn“ ist keinesfalls immer einsinnig, Governance ist kein harmonischer Stuhlkreis. Zwei Beispiele für Konflikte, die sich nach partizipativ getroffenen Entscheidungen ergaben: In Simbabwe erhöhte etwa sich die Zahl wildlebender Elefanten nach der Ausweisung eines Schutzgebiets, aber die Einkommen der lokalen Bevölkerung gingen zurück. In Ghana führte die Ausweisung von Schutzgebieten zu Konflikten zwischen Bevölkerung und Beamten. Gibt es aber eine Kultur des Dialogs, so lässt sich auch über Kompensationen reden.
Ist die Landeigentumsfrage heikel, dann lassen sich oft doch zumindest die Nutzungsrechte formalisieren. In Sambia etwa gehe es oft eben darum, erzählt Nsama Chikolwa, eine lokale Projektpartnerin der SEWOH. Und in Uganda ist die Landnutzungsfrage im Vergleich zum dünn besiedelten Sambia noch heikler: Dort ist mit 213 Einwohnern pro Quadratkilometer die Bevölkerungsdichte im afrikanischen Vergleich besonders hoch, zudem waren 2020 mehr als 1,4 Millionen Flüchtlinge im Land. Und Landinvestoren kaufen große Flächen. Nur weniger als 10 Prozent des Landes in Uganda ist formal registriert und in amtlichen Registern verzeichnet. Solange das so ist, sind die Menschen darauf angewiesen, dass ihr Landnutzungsrecht von Nachbarn oder den Dorfältesten bezeugt wird.
In einem Projekt arbeiten die GIZ und lokale Institutionen daran, formale Landeigentums- und Nutzungsrechte zu befördern. Das Governance-Konzept des Vorhabens ist es, zunächst die lokale Zivilgesellschaft, aber auch Landinvestoren und die Bevölkerung selbst über das Thema sowie die Rechtslage zu informieren und mit den Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten, Fischgründen und Wäldern (VGGT) der FAO vertraut zu machen. In den Dörfern fragen die Experten vor Ort auf der Basis vieler Interviews die momentanen Nutzungsgewohnheiten ab, verschriftlichen sie und vermessen die Landparzellen. Das ist ein Anfang. Schon mit solchen Landpapieren werde es für die Bäuerinnen und Bauern dann mitunter möglich, Kleinkredite für Investitionen in ihr Land zu erhalten, schreibt die GIZ. Ähnliche Projekte gibt es in Peru, wo rund 30 Prozent der indigenen Gemeinschaften noch nicht über formale Landrechte verfügen.
Auch Projekte zur Verbesserung der Ernährungssicherung basieren auf der Einbindung vieler Sektoren: der Ministerien, Privatwirtschaft, lokalen Bevölkerung. Felix Pensulo Phiri aus Malawi, ein SEWOH-Partner und Beamter des Gesundheitsministeriums, berichtet von einem „neuen Mindset“, das durch solche moderne „Governance“ in den ernährungspolitischen Projekten herrsche, in die er involviert sei. Jahrzehntelang, sagt er, sei einfach nur immer mehr Mais kultiviert und ertragreichere Sorten und die nötigen Dünge- und Pflanzenschutzmittel gefördert worden. „Um die Leute zu sättigen“. Seit dem Jahr 2004 stelle die Regierung aber die Ernährungspolitik auf eine breitere Grundlage. Diverse Komitees seien dafür gegründet worden.
Ein Ergebnis: Jeder lerne von der Perspektive des anderen, das „Mindset“ ändere sich.
Das passiert allein dadurch, dass etwa Shareholder-orientierte Unternehmen plötzlich in konkreten Projekten an Menschenrechtsfragen mitarbeiten. Das Beispiel aus Malawi zeigt, dass politisches Handeln sich nicht auf Regierungshandeln beschränkt. In der SEWOH waren auch Konzerne wie Bayer und BASF an lokalen Projekten beteiligt. Teilnehmer von vielen Seiten stellen die Erfahrungen der Kooperation als gelungen heraus. „Alle mussten liefern, alle hatten eine konstruktive Rolle“, sagt einer. Solche subjektiven Zeugnisse mögen nach einem „weichen“ Erfolgskriterium klingen, angesichts der „harten“ Herausforderungen. Aber ohne Motivation ist alles nichts. Und das eingeübte, reflexhafte Gegeneinander politischer Parteien, von Wirtschaft und Industrie, hat in der westlichen Welt schon viel problemlösungsbezogene Motivation zunichtegemacht.