„In jeder Situation gibt es auch Chancen"
In Elmau werden viele verschiedene Krisen verhandelt. Was bedeutet das fürs Regierungshandeln? Anna-Katharina Hornidge ist Co-Leiterin von Think7 – dem Zusammenschluss von führenden Denkfabriken. Sie sieht im Gipfel auch die Chance für einen großen Wurf. Ein Interview von Journalist Jan Rübel.
Der aktuelle G7-Gipfel steht im Schatten vieler, nicht gerade kleiner Krisen. Werden da Visionen und langfristiges Planen auf der Strecke bleiben?
Anna-Katharina Hornidge: Diese Krisen laden doch besonders dazu ein, einen großen Entwurf hinzulegen. Denn die Dringlichkeit wird immer stärker: Viele Problemfelder verstärken sich gegenseitig und ziehen Folgekrisen nach sich. Aber es stimmt, unsere Steuerungskapazitäten sind allein durch Corona geschwächt; hinzu kommen Autokratisierungsprozesse, die eine Krise des Multilateralismus bedingen…
Also keine gute Ausgangslage?
„Fake News“ und „Neusprech“ erschweren den Diskurs ungemein. Es geht also um zweierlei: Wir brauchen einerseits den großen Wurf und andererseits ist auszumachen, welche Stellschrauben gedreht werden müssen, um mittel- bis langfristige Dynamiken zwischen den Krisen voranzubringen. Das ist die große Herausforderung.
Welche Stellschrauben meinen Sie?
Zum Beispiel mit Blick auf die Ukraine ist klar: Die sozialen Absicherungssysteme in der Region sind zu stärken. Es braucht Investitionen in die Versorgung von Geflüchteten und in Gesundheit sowie Bildung allgemein. Warum? All dies fördert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Widerstandskraft im Umgang mit Krisen.
Sehen Sie bei den G7 die Bereitschaft, solche Stellschrauben zu drehen?
Die Bereitschaft ist da. Das sieht man an der kurzfristigen Krisenbekämpfung wie dem Hunger durch die Global Alliance for Food Security. Das ist immerhin der Versuch eines großen Wurfes. Gleichzeitig gibt es Signale aus den G7, sich an die Stellschrauben der Governanceinstrumente und an eine neue Architektur heranzumachen. Also, inklusive Clubformate voranzubringen – das weist in die richtige Richtung, sei es durch Klimaclubs oder andere themenspezifische Allianzen wie etwa im Gesundheitskontext.
Und bei den von Ihnen beschriebenen Absicherungssystemen für Soziales, Gesundheit und Bildung?
Das sind zentrale Rückräder von Gesellschaften. Da ist die G7 eher zurückhaltend. Zurecht sagt sie: Das soll eigentlich aus den Ländern selbst finanziert werden. Es kann ja nicht sein, dass ein Land wie Indonesien nur 0,2 Prozent seines Bruttoinlandprodukts ins Bildungs- und Wissenschaftssystem steckt; in Nigeria sind es 0,1 Prozent. Über einen globalen Diskurs und über globale Anreizsystementwicklungen ist darauf hinzuwirken, dass Länder ihre Steuersysteme aufräumen und sich selbst in die Lage versetzen, Steuern transparent zu verwalten und strategisch geschickt einzusetzen – nämlich im Sinne der nachfolgenden Generationen.
Der G7 sind da die Hände gebunden?
Die G7 sollte gezielt auf globaler Ebene auf die zentrale Rolle von Investitionen in die eigenen Wissenschaftssysteme hinweisen. Es bedarf aber tatsächlich der Wertschätzung von Wissenschaft, Bildung und unabhängigen Medien, statt ‚FakeNews‘, in Ländern weltweit.
Liegt in der veränderten Weltlage auch eine Chance?
In jeder Situation gibt es auch Chancen. Jetzt kann man sich vor Augen führen:
Mit wem wollen wir gezielt bei der Transformation unserer Wirtschafts- und Energiesysteme voranschreiten? Leuchtende Beispiele könnten nun geschaffen werden. Aber die Herausforderungen überwiegen momentan.
Welche Leuchttürme fallen Ihnen ein?
Zum Beispiel erfolgreich gestaltete Just Transition Partnerships wie beim Energiesektor zwischen Hocheinkommensländern und Südafrika, Indien und Indonesien. Interessanterweise wird dieses Projekt schon jetzt sehr gefeiert, obwohl es noch nicht existiert – aber bleiben wir hoffnungsvoll. Auch inklusive Klimaclubs, die transparent agieren, können eine Strahlkraft entfalten. Und man könnte ja auch mal über bildungs- und forschungsbezogene Clubs nachdenken! Wissenschaftsaufbau sollte schließlich keine exklusive Angelegenheit weniger sein.
Die Autokratisierungen haben Sie bereits erwähnt. Sehen sie irgendwo auch Fortschritte in Sachen Demokratie und politischer Freiheit?
In den USA selbst gibt es seit zwei Jahren wieder einen leichten Fortschritt, verbunden mit der Frage: Ist das nur eine Atempause oder sind die USA auch langfristig wieder ein verlässlicher Partner auf der Ebene der Global Governance? Eine Positiventwicklung gibt es auch in Frankreich oder in Australien. Auch ist zu vermerken, dass es mittlerweile eine sehr viel offenere Auseinandersetzung mit autokratischen Systemen gibt. Und innerhalb dessen wird auch zunehmend erkannt, dass die Kriegsführung wie zum Beispiel in der Ukraine nur zu einem kleinen Teil eine territoriale Kriegsführung ist, sondern dass die deterritoriale Kriegsführung über Handel und Informationspolitik mindestens genauso ernst zu nehmen ist und an den Grenzen der Ukraine nicht haltmacht.
Bei den politischen Entscheidungsträgern gab es eine Bewusstseinsschärfung dafür?
Durchaus. Auch haben die Bekenntnisse zu demokratischen Werten zugenommen. Das Eintreten für die Demokratie ist nun politisierter. Nicht nur die Politik spricht von demokratischen Werten, sondern auch Zivilgesellschaft, Medien und Wirtschaft.
Wenn wir auf den anstehenden G7-Gipfel in Elmau schauen: Haben Sie den Eindruck, dass die Stimmen der Wissenschaften angemessen gehört worden sind?
Das müssen wir noch abwarten. Aber zumindest gab es nun erstmals einen Think7-Prozess, früher existierte nur der Science7-Prozess. Jetzt ergänzt es sich wunderbar: Bei Science7 arbeiten wissenschaftliche Institutionen unter der Führung der Leopoldina weitestgehend zu naturwissenschaftlichen Themen zusammen, während Think7 sozialwissenschaftliche und politikfeldorientierte Wissenschaft versammelt.
Daher bin ich davon überzeugt, dass nun unter der deutschen G7-Präsidentschaft die Wissenschaft besser gehört werden konnte: Sie sprach mit unterschiedlicheren Stimmen.
Und sehen Sie die Herausforderungen durch den Klimawandel genügend gewürdigt, etwa durch das Kommuniqué der Ministerinnen und Minister für Entwicklungszusammenarbeit?
Der russische Angriffskrieg hat sicherlich einige Aufmerksamkeit vom Klimawandel weg und auf sich gezogen. Daher wird der Klimawandel nun beim G7-Gipfel weniger thematisiert, als es sicher sonst der Fall gewesen wäre. Gleichwohl steht ja in der erwähnten Erklärung: Das Erreichen der Klimaziele ist zentral wichtig, allein ist es aber nicht ausreichend, um mit den multiplen Krisen umzugehen. Da müssen wir dafür sorgen, dass wir uns bei der Erfüllung der UN-Nachhaltigkeitsziele wieder zurück auf Spur bringen.
Was heißt das?
Nicht nur durch die Pandemie Verlorengegangenes muss wettgemacht werden, sondern es braucht jetzt substantielle Investitionen. Warum? Weil eben nicht nur eine Klimakrise herrscht, sondern ein Konglomerat aus sich verstärkenden Krisen. Vor zwei Jahren sagten wir alle: Es ist nicht nur eine Gesundheitskrise, sondern auch eine Finanzkrise, bei der wir aufpassen müssen, dass dies nicht zu einer politischen Krise wird. Und nun sitzen wir hier und haben die politische Krise mitten in Europa. Ob Korrelation oder Kausalität ist noch offen.
Haben Sie eine konkrete Forderung an den Elmauer Gipfel?
Wir haben viele. Aber wenn ich eine nennen soll:
Undemokratischen Tendenzen muss stärker die Stirn gezeigt werden.
In den vergangenen Jahren ist das Wort Demokratie durch Governance ersetzt worden – auch beim BMZ finden Sie im Organigramm das Wort Demokratie nicht mehr. Dabei kann Governance rein funktionalistisch oder technokratisch gesehen werden, etwa die Förderung von Verwaltung. Das ist alles wichtig, ist aber weder politisch noch geostrategisch.