„In gewisser Weise befinden wir uns jetzt an einem Wendepunkt“
Menschen mit Taubblindheit, die zwischen null Komma zwei Prozent und zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind eine sehr vielfältige, aber oft versteckte Gruppe, die insgesamt häufiger von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen ist. Gibt es Fortschritte bei der Integration? Ein Interview mit Sanja Tarczay, Präsidentin des Weltbundes der Taubblinden (WFDB).

Sie haben auf dem Gipfel gesagt, dass der Global Disability Summit (GDS) die Drehscheibe für Inklusion ist. Was meinen Sie damit?
Sanja Tarczay: Sehen Sie sich beispielsweise das Forum der Zivilgesellschaft an, das Teil des Programms war. Es waren viele verschiedene Perspektiven vertreten, von Menschen mit Behinderungen, von Regierungsvertreter*innen, von verschiedenen Expert*innen, die unermüdlich an neuen Lösungen zur Vernetzung arbeiten und wichtige Themen diskutieren. Diese unterschiedlichen Perspektiven und diese Vielfalt haben es geschafft, ein reichhaltiges Zentrum des GDS zu schaffen – ein reichhaltiges Zentrum für Inklusion und Wissenstransfer. Es war ein großartiger Ort für öffentliche Diskussionen über Themen, die in letzter Zeit vernachlässigt wurden.
Und deshalb ist es sehr wichtig, dass nicht nur Menschen mit Behinderungen hier sind, sondern alle Akteure, die zu mehr Inklusion beitragen können.
Bitte verzeihen Sie mir die naive Frage, aber warum ist ein globaler Gipfel für die Rechte von Menschen mit Behinderungen notwendig?
Ich denke, das ist nicht wirklich eine naive Frage, sondern etwas, das hinterfragt werden sollte. Warum eigentlich? Wenn wir in die Vergangenheit blicken, wo stehen wir dann? Lassen Sie es mich anders formulieren. Ich kann Ihnen ein Beispiel für Deutschland geben: Im Jahr 2013 baten mich viele meiner taubblinden Kolleg*innen um einen Besuch, um sie bei der Bildungsarbeit zu unterstützen und der Regierung die Unterstützungsleistungen zu erklären. Zudem haben wir ohne jegliche Unterstützung einen Taubblindenmarsch organisiert. Und für Menschen mit einer Sehbehinderung ist das eine große Herausforderung. Wir haben es geschafft, ihn hier in Berlin zu organisieren. Wir sind vor die Regierung getreten, um für unsere Rechte einzutreten. Das hängt mit der Frage zusammen, denn warum ist das wichtig? Die internationale Zusammenarbeit ist der Grund. Wenn es das nicht gäbe, wäre Deutschland wahrscheinlich noch nicht so weit mit den Rechten von Menschen mit Taubblindheit. Jetzt haben diese Menschen hier Unterstützung. Und sie sind nicht mehr isoliert.
Warum scheitert die Umsetzung der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen so oft?
Ich würde es nicht als Versagen bezeichnen. Ich würde definitiv sagen, dass es einen kleinen, aber sicheren Fortschritt gibt. Ich kann ein Beispiel aus meinem eigenen Land, der Republik Kroatien, anführen. Als ich meinen nationalen Taubblindenverband gründete, waren Menschen mit Taubblindheit noch nicht vertreten: Nicht im Gesetz, nicht im Sozialsystem, nirgendwo. Letztes Jahr bekamen wir endlich ein Gesetz über persönliche Assistenz und Kommunikationsvermittler*innen, mit dem diese Unterstützung gesetzlich verankert wurde. Also zurück zu dem, was Sie angesprochen haben: Es hängt sehr von dem Land ab, in dem man sich befindet, aber auch von den Bemühungen und der Stärke der Organisationen von Menschen mit Behinderungen und ihrer Beteiligung. Vielleicht gibt es auch einige Strömungen, die das Bild von Menschen mit Behinderungen beeinflussen. Man kann immer alle Misserfolge hervorheben, aber realistischerweise gibt es auch einige Fortschritte.
Ich denke, es ist sehr wichtig zu erkennen, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht nur für Menschen mit Behinderungen gelten. Wir alle können eine Behinderung erhalten, insbesondere wenn wir älter werden.
Beispielsweise wenn man sein Sehvermögen oder sein Gehör verliert oder eine körperliche Behinderung hat, weil man alt ist. Daher ist es wichtig, sich auf gleiche Rechte für alle zu konzentrieren.
Menschen ohne Behinderung denken normalerweise nicht darüber nach...
Ja, das ist wahr. Die Menschen haben das Gefühl, dass es ihnen nicht passieren kann. Die Wahrheit ist die: Es passiert. Es passiert jeder und jedem. Es ist alles eine Frage der Perspektive. Niemand wird ewig jung bleiben, und wir können unsere Jugend nicht ewig bewahren. Deshalb versuche ich, das zu betonen.
Ihre Organisation ist weltweit tätig – kommen Ihre Aktivitäten auch mit Themen wie Lebensmittel und Ernährung in Berührung?
Ich denke, dass wir mehr mit Lebensmittelexpert*innen und Ernährungswissenschaftler*innen zusammenarbeiten müssen. Denn viele Menschen mit Behinderungen sind anfälliger für Krankheiten, weil sie keine Unterstützung erhalten. Daher glaube ich, dass dieser Gipfel ein großartiger Ort sein kann, um die relevanten Akteure zu vernetzen und um diese Initiative zu starten. Und in gewisser Weise hängt das auch mit Ihrer vorherigen Frage zusammen: Ich weiß, dass es auch für gesunde Ernährung günstige und einfache Lösungen gibt. Und ich denke, dass auch die Ernährungsindustrie in dieser Hinsicht problematisch ist.
Wie sieht die Situation im globalen Süden aus, ist der Zugang zu Lebensmitteln ein besonderes Problem für Menschen mit Taubblindheit?
Das ist ein sehr heikler Punkt, denn in Europa, Nordamerika und Australien ist die Situation in diesen Bereichen etwas besser. Aber in einigen Ländern Afrikas und in anderen Teilen des globalen Südens kämpfen sie immer noch um das grundlegende Überleben. Das ist also eine ganz andere Ebene. Einige Menschen haben überhaupt keinen Zugang zu Lebensmitteln, geschweige denn zu angemessener Nahrung. Und ich denke, dass dies eine sehr gute Frage ist. Es ist ein Problem, dass wir nicht genug über diese Dinge nachdenken.
Sie haben gesagt, dass es einen kleinen Fortschritt gibt. Wo werden wir also in zehn Jahren stehen?
Das ist wirklich schwer vorherzusagen. In gewisser Weise befinden wir uns jetzt an einem Wendepunkt. Ich glaube immer an das Gute im Menschen und ich glaube immer an einen optimistischen Ansatz. Wir sehen aktuell die Situation in Nordamerika, die die Welt erheblich beeinflusst. Wir haben auch den Krieg in Russland und der Ukraine. Und es gibt weitere Konflikte, wie zum Beispiel im Gazastreifen. Ich bin mir dieser Konflikte sehr bewusst. Unabhängig davon bin ich trotzdem nicht sicher, was in zehn Jahren sein wird – aber es wird sicherlich besser sein.