Wie Daten und Digitalisierung Menschenrechte pushen
Der dritte Global Disability Summit in Berlin sucht nach greifbarer Durchsetzung ihrer Rechtsansprüche. Ein wichtiges Tool dafür auch in der Entwicklungspolitik: Daten und Digitalisierung. Dass die Fortschritte in der Digitalisierung und Datenerhebung großes Potenzial bieten, ist auf der Veranstaltung in Berlin unbestreitbar.


Eine Formel geistert durch die Hallen des „Global Disability Summit“ am Berliner Gleisdreieck. Man hört sie in verschiedenen Foren und Workshops:
„Keine Daten, keine Aktion, keine Inklusion“
... wiederholt etwa ein Mann auf der Bühne in Halle 7.3 diesen schlussfolgernden Dreisatz unweit des Bahnhofs, an dem sich drei U-Bahnen kreuzen. „Es geht darum, Evidentes voranzubringen.“ Für einen kurzen Moment ist es still, als nickte man Robert Mearns, Global Director for Social Development bei der Weltbank, stumm zu. Dann setzt sich die Debatte fort, als eine von vielen beim dritten Weltgipfel für Menschen mit Behinderungen.
Es ist Anfang April. Über 3000 Menschen sind zusammengekommen, um die Lage von 1,3 Millionen voranzubringen – so viele Menschen haben weltweit mit Behinderungen. Ausgerichtet von den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und des Haschemitischen Königreichs Jordanien mit der Internationalen Allianz für Menschen mit Behinderungen (IDA) als Co-Gastgeber, suchen sie in zwei Tagen nach Fortschritt durch Verpflichtung. „Die Zusammenkunft ist nicht symbolisch, sondern ein Signal“, sagt IDA-Präsident Nawaf Kabara bei der Eröffnungsveranstaltung. Die beiden vorangegangenen Gipfel hievten die Anliegen auf die Bühne der Politik. „Dieser dritte handelt nun von Action.“

Um die Leben von 16 Prozent der Weltbevölkerung zu verbessern, braucht es mehr als Klicks und Bytes. Aber ohne sie geht es kaum. Darum mäandern Themen rund um Daten und Digitalisierung durch die Dutzenden von Foren in diesen beiden Tagen. Den Sachstand aus den mit am stärksten diskriminierten Gruppen dokumentieren zum Beispiel Berichte im „Side Event 3“ über den Zugang indigener tauber Frauen zu Gesundheit: „Leute in den Gesundheitsberufen haben Vorurteile“, teilt Ruci Senicula ihre Erfahrungen. „Aborigines berichten von Ableismus.“ Die Regionalkoodinatorin des Pacific Disability Forum berichtet von Frauen mit Behinderungen in Peru, die zu Unfruchtbarkeit gezwungen worden seien, von vielen Frauen in Kenia, die fehlende Familienplanung beklagten. Ähnliches überliefert Pamela Molina. „Wir haben eine Datensammlung in Bolivien begonnen“, so die Exekutivdirektorin des Weltverbandes der Gehörlosen (WFD). Ein Anfang – bei mehr als 70 Millionen Gehörlosen weltweit. „Wir wissen viel zu wenig über sie, wie viele von ihnen Gebärdensprache benutzen. Dafür braucht es Forschung, die von Gehörlosen betrieben wird.“ In Bolivien hätten sie 20 Frauen interviewt. „Ihre Aussagen waren sehr hart. Alle hatten keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten und einen beschränkten zu Bildung. Alle berichteten von Gewalterfahrung.“ Bei diesen mehrfach vulnerablen Gruppen – Frau, indigen, mit Behinderung – braucht es also Daten, um anzusetzen. Und bisher gibt es sie kaum. „Wir sind ungehört“, fasst Pratima Gurung zusammen, die Präsidentin der nepalesischen Vereinigung indigener Frauen mit Behinderungen. „Und darüber hinaus werden unsere Gebiete vergiftet. Davon sind wir betroffen.“
In Halle 7.3 fasst ein Vertreter der Exekutive die Malaise fehlender Daten zusammen. „Es beginnt mit Wissen, und Wissen beginnt mit Daten“, sagt der jordanische Bildungs- und Forschungsminister Azmi Mahafzah.
„Daten sind ein Schlüsselinstrument zum Bemessen und Identifizieren von Herausforderungen.“
Im Disability Data Forum sitzt neben ihm Robert Mearns von der Weltbank, er erzählt vom nun aufgelegten Disability Data Hub, der freien Zugang zu weltweiten aufgeschlüsselten Daten entlang Entwicklungsindikatoren und Sektoren gewährt. „Anfangs hatten wir 130 Indikatoren, das waren zu viele. Wir gingen runter auf 22 Schlüsselindikatoren.“ Einer dieser Punkte: ob Menschen in urbanen oder ländlichen Räumen leben. Dass der Hub eine offene Datenflasche ist, entspricht auch der Digitalstrategie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Das Ministerium hat längst erkannt, dass Digitalisierung nicht nur ein Querschnittsthema ist. Sie wird nicht nur in entwicklungspolitische Prozesse eingebunden, um gesteckte Ziele effektiver und transparenter zu erreichen. Digitalisierung ist schlicht nicht zu umgehen und stattdessen Werkzeug der Gegenwart zum Gestalten der Zukunft.
Draußen im Foyer sind mehrere Stände aufgestellt. An einem steht Walid Dameh, der Prothetiker des Startups 3DP4ME zeigt 3D-gedruckte Hörstöpsel, passgenau individuell hergestellt. Dann zückt er ein Handy und scannt seine Hand. „Damit wird sie komplett vermessen“, sagt er. Mittels dieser Software will das junge Unternehmen in Gaza amputierten Palästinensern zu Prothesen verhelfen. „Die Aufnahmen werden dort mit dem Smartphone gemacht und zu uns geschickt. Dann fertigen wir einen Prototyp an. Passt er, drucken wir ihn in mit Karbonfaser.“ In Gaza gebe es durch den Krieg 3500 Menschen mit Amputationen. „Wir sind bereit.“
Hier beim GDS weiß man, dass Technologie Sinn machen muss. Produktentwickler*innen beim Gipfel machen sich nicht Gedanken über Lebenswelten von Menschen mit Behinderungen, sondern mit ihnen. Der Körper wird nicht als Problem gesehen, sondern das jeweilige Umfeld. Hier geht es nicht um Produkte, die nur ein Detail des an Barrieren nicht armen Alltags behandeln, sondern um echte Lösungen, die einen Unterschied machen können.

Dies zeigt auch „Side Event 10“, der den Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) zum Überbrücken von Barrieren zwischen nicht-standardisierter Sprache und automatischen Spracherkennungsprogrammen thematisiert – wie also Menschen, die etwa durch eine Erkrankung in ihrer sprachlichen Mitteilungsfähigkeit behindert werden, Maschinen besser nutzen können. „Die Welt ist für Leute wie mich gemacht“, sagt Christopher Patnoe, der bei Google als Head of Europe, Middle East, Africa – Accessibility and Disability Innovation arbeitet. „Aber für viele andere nicht.“ Die Zahl der Menschen mit einer nicht standardisierten Sprache wird auf 250 Millionen geschätzt. Forschungsteams des Technologieunternehmens haben in den vergangenen Jahren durch tausende von Sprachaufnahmen und Machine Learning eine Android Beta App entwickelt. „Google Relate“ erkennt und transkribiert Sprache, um diesen Menschen eine Stimme zu verleihen; ein nicht kleiner Impact, der sich abzeichnet. „KI ist nur ein Instrument“, sagt Patnoe, „die Lösung sind die Menschen“. Auf dem Workhop-Podium sitzt auch Gifty Ayoka, die Gründerin der Talking Tips Africa Foundation. Ihre Organisation testete die App in Ghana. „Mein erster Eindruck war, dass sie brillant ist, aber eben nur auf Englisch funktioniert“, sagt sie – und das in einem Land, in dem es 80 Sprachen gibt. So wurden hunderte Studierende trainiert, um den Dienst in diese hineinzutragen. Gifty berichtet von einer Anwältin, die wegen ihrer Sprache nicht mehr zum Gericht gegangen sei, weil der Richter vorgegeben habe, sie nicht zu verstehen. „Nun spricht sie von der App als ihrem ‚kleinen Spielzeug‘. Wir sehen, wie dies das Leben von Menschen transformiert.“ Patnoe kündigt an, den Prozess mit einem Open-Source-Ansatz zu gestalten. „Ihr werdet Zugang zum Prototypen kriegen“, sagt er. „Wir werden diese Informationen demokratisieren.“
Will die Weltgemeinschaft die Nachhaltigkeitsziele bis 2030 nicht aus den Augen verlieren, braucht sie digitale Entwicklungssprünge wie solch eine App. Und eben alle Menschen, Frauen, Kinder, mit und ohne Behinderung – sowie die Politik.
„Wir müssen digitale Tools nutzen, um Lebenssituationen zu verbessern,“
... sagt Alexei Buzu, der Minister für Arbeit und Sozialschutz in Moldawien. „Aber wir müssen vorsichtig sein. Manche Personen sind der Meinung, Digitalisierung werde alles lösen. Aber nichts ersetzt den politischen Willen.“ Digitalisierung müsse organisiert werden. Neben ihm pflichtet Inmaculada Placencia Porrero bei, sie arbeitet als Senior-Expertin zu Behinderungen bei der Europäischen Kommission zur Zugänglichkeit von Geräten und Diensten. „Standards sind freiwillig“, insistiert sie. „Sie allein reichen nicht aus, es braucht Gesetze.“ Dann schiebt sie nach: „And you need teeth to this legislation“ – also eine Durchsetzungskraft, die solch einem Gesetz Biss verleiht.

Zurück zu den Innovationen außerhalb der Workshops, setzt sich eine Besucherin eine VR-Brille auf. Auf einem Monitor vor ihr erscheint ein Straßenbild São Paulos. Ihre Aufgabe: Sie soll durch Kopfnicken Pfeilen auf dem Stein folgen, um einen vorgegebenen Weg zu gehen. „Wir haben das Safe-Path-Projekt in der Virtuellen Realität erarbeitet, um Menschen mit kognitiven Schwierigkeiten zur Orientierung im Verkehr zu helfen“, sagt Alessandra Murolo Litmanowicz. Die Besucherin dreht ihren Kopf um 360 Grad nach links, um eine virtuelle Straße beim „Überqueren“ im Blick zu behalten – da erscheint ein gelbes Warn-Quadrat: „Ups“, sagt Litmanowicz und lächelt. „Da kam ein Auto von rechts.“ Das brasilianische Instituto Jô Clemente (IJC) hat das Projekt gemeinsam mit der ALSTOM-Stiftung realisiert, noch steckt es in der Adaptionsphase. „In der zweiten Phase bauen wir eine wissenschaftliche Begleitung auf, und in der dritten Phase wollen wir Menschen trainieren, sich nicht nur durch den Straßenverkehr sicher zu navigieren, sondern zu einem virtuellen Jobbewerbungsgespräch zu gehen und es zu führen.“
Bei diesem dritten Weltgipfel für Menschen mit Behinderungen drängen sich zwei Eindrücke auf. Zum einen ist die globale Gemeinschaft noch sehr weit von durchdringender Inklusion entfernt. Und zum anderen gibt es mehr Bewusstsein, Bemühungen und Erfolge auf dem Weg dorthin; überhaupt befinden wir alle uns auf einer unaufhaltsamen Reise in die Zukunft – Digitalisierung ist ein Menschheitsprojekt.
In Erinnerung bleibt die Eröffnungsveranstaltung, ILA-Präsident Nawaf Kabara sagte dort: „Für Menschen mit Behinderungen ist Inklusion eine Lebensfrage.“ Bundeskanzler Olaf Scholz rief dazu auf: „Lasst uns die abstrakten Diskussionen verlassen und die Barrieren brechen.“ Und dann sprach Jordaniens König Abdullah II. bin al-Hussein:
„Bei Inklusion geht es nicht nur um Zugang, sondern darum, das innewohnende Potenzial eines jeden Menschen anzuerkennen.“
Dann verließ er die Bühne. Er hätte links von sich eine Treppe als Abkürzung nehmen können. Aber er nahm den Weg zurück wie vor ihm Kabara, der mit seinem Rollstuhl eine Rampe quer zum Podium runtergerollt war. Während des Gangs des Königs hinab zu seinem Platz vergingen lange, stille Sekunden. Sie fühlten sich an, als sickerte diese Anerkennung in jeden Kopf im Saal.