Die stille Krise unter unseren Füßen: Warum Landrechte heute entscheidender sind denn je
Über eine Milliarde Menschen weltweit fürchten, den Zugang zu ihrem Land zu verlieren. Obwohl große Flächen nach Gewohnheitsrecht bewirtschaftet werden, fehlt den meisten Gemeinschaften bis heute die rechtliche Anerkennung. Wachsende Ungleichheit, konzentrierter Landbesitz und die Benachteiligung von Frauen und Indigenen zeigen, wie eng Land und Macht verknüpft sind. Gleichzeitig machen Initiativen von Kamerun bis Kenia deutlich, dass sich Gesetze und Praxis verändern lassen. Die International Land Coalition (ILC) gibt einen Überblick.
Landrechte sind weit mehr als eine technische Frage oder ein politischer Geschäftsordnungspunkt – sie berühren Würde, Identität, Überleben, Gerechtigkeit und Hoffnung. Verantwortungsvolle Landgovernance bietet Antworten auf zentrale Herausforderungen unserer Zeit, von Klima über Ernährungssysteme bis hin zu Biodiversität, Geschlechtergerechtigkeit und Frieden.
Ein neuer Bericht der FAO und CIRAD zeigt das Ausmaß der Krise: Jede*r vierte Erwachsene weltweit – 1,1 Milliarden Menschen – fürchtet, in den kommenden fünf Jahren Land oder Zuhause zu verlieren. Die Unsichtbarkeit des Problems ist enorm: Obwohl 42 Prozent der weltweiten Landflächen unter Gewohnheitsrecht stehen, sind nur 8 Prozent davon rechtlich anerkannt – ein strukturelles Faktor der Vulnerabilitäten schafft. Land bedeutet Macht: zwischen Männern und Frauen, Unternehmen und Gemeinschaften, Indigenen Gruppen und dominierenden Gesellschaften, zwischen Globalem Norden und Süden.
Unsere Forschung zeigt , dass Landungleichheit – die materielle Form von Macht – nicht nur größer ist als angenommen, sondern weiter zunimmt. Das reichste Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe kontrolliert über 70 Prozent des globalen Ackerlandes und bildet das Rückgrat eines zunehmend undurchsichtigen, unternehmensdominierten Ernährungssystems. Mit wachsendem Kapital im Landsektor verdichten sich Besitz und Kontrolle weiter.
Vor 30 Jahren wurde die International Land Coalition gegründet, um Basisorganisationen und multilaterale Akteure zusammenzubringen. Seither ist sie von 30 auf 323 Mitglieder in 93 Ländern gewachsen – darunter Bauern- und Frauenorganisationen, indigene Gemeinschaften, Forschungseinrichtungen, NGOs und internationale Organisationen. Gemeinsam vertreten sie über 100 Millionen Menschen und bilden die weltweit vielfältigste, mitgliedergeführte Allianz für Landrechte als Hebel gegen Armut und für den Schutz des Planeten. Durch ihr beharrliches Engagement konnten Landrechte von über 4,7 Millionen Frauen und Männern gesichert, mehr als 45 Millionen Hektar geschützt und 154 politische und rechtliche Reformen angestoßen werden. Das ist die Kraft kollektiven Handelns. ILC stärkt seine Mitglieder und National Land Coalitions, bündelt Landdaten und Evidenz und setzt sich gemeinsam für gerechte Landgovernance ein.
Frauen und das Recht auf Land
Die Frage, wem Land gehört – und wem nicht – prägt das Schicksal ganzer Gesellschaften. Besitz und Nutzung von Land bestimmen Lebensrealitäten, Chancen, Belastungen und letztlich, wer Macht ausübt. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich eine der deutlichsten Ungerechtigkeiten: der unzureichende Zugang von Frauen zu Land und Kontrolle darüber.
Rechtliche Ansprüche bedeuten für Frauen jedoch nicht automatisch tatsächliche Rechte. Zwar erkennen 164 Länder das Erbrecht von Frauen an, doch nur 52 setzen dieses Recht auch in der Praxis durch. Statistisch gesehen gewährleistet also nur eines von drei Ländern, dass Frauen tatsächlich Land erben können – auch wenn fast alle es behaupten. Dennoch gibt es Hoffnung. Die Geschichte von Justine Epse Bel aus Logdikit im ländlichen Kamerun zeigt, wie verletzlich Frauen bleiben: Nach dem Tod ihres Mannes verlor sie nicht nur ihren Partner, sondern auch ihr Land. Gewohnheitsrecht und Traditionen überstimmten die nationalen Gesetze, die sie schützen sollten. Für ihre Gemeinschaft war sie nicht länger die rechtmäßige Besitzerin des Landes, das sie über Jahre bewohnt und bewirtschaftet hatte. In ihren Worten: „Du bist kein lebendes Wesen mehr. Du hast kein Recht auf irgendetwas.“ Und Justine ist, wie wir wissen, nicht allein.
Millionen Frauen weltweit erleben dieselben Ungerechtigkeiten. In Kamerun finden Frauen wie Justine durch die National Land Coalition ihre Stimme und fordern ihre Rechte ein. Gemeinsam mit traditionellen Autoritäten, lokalen Verwaltungen und Communities arbeiten sie daran, nicht nur Gesetze, sondern alltägliche Praktiken zu verändern. Durch Räume für Dialog stellen sie stigmatisierende Traditionen infrage und zeigen, dass demokratische Prozesse Frauen einschließen müssen. Nachhaltiger Wandel entsteht – im Landsektor wie überall – durch Konsultation und frühzeitige Einbindung traditioneller Autoritäten. Dank des Engagements der ILC-Mitglieder und der National Land Coalition entwickelt Kamerun derzeit eine Landpolitik, die das Erbrecht von Frauen schützt. Diese gemeinschaftlich getragene, rechtlich untermauerte Reform spiegelt den Kernansatz der ILC und den Anspruch des Responsible Land Policy Program wider: inklusive Landgovernance mit vielen Akteur*innen als Grundlage für dauerhaften Wandel.
Schutz indigener Gemeinschaften sowie von Land- und Umweltaktivist*innen
Als Unterstützer der Global Alliance for Land, Indigenous and Environmental Defenders (ALLIED) dokumentieren wir Rechtsverletzungen gegenüber indigenen Völkern sowie Angriffen auf Land- und Umweltaktivist*innen. Im vergangenen Jahr verzeichnete ALLIED über 1.100 nicht-tödliche Angriffe in 52 Ländern, zusätzlich zu 142 Ermordeten. Seit 2015 haben lediglich fünf UN-Mitgliedstaaten solche Übergriffe in ihren SDG-Berichten zu Ziel 16 erwähnt. ILC unterstützt Bürger*innen dabei, diese eklatante Datenlücke zu schließen – unter anderem durch die Land Acts und andere Instrumente, die kontextsensitive, disaggregierte Daten für mehr Rechenschaftspflicht liefern. Ein Beispiel dafür ist Kenia.
2024 nutzte Kenia durch ALLIED bereitgestellte, von Bürger*innen erhobene Daten, um Verstöße gegen die Rechte indigener Gruppen sowie Angriffe auf Land- und Umweltaktivist*innen zu dokumentieren. Die Regierung erkannte offen an, dass staatliche Datensysteme Lücken aufweisen und dass sie auf zivilgesellschaftliche Organisationen angewiesen ist, um ein vollständiges Bild der Lage vor Ort zu erhalten. Genau darum geht es in unserer Arbeit: Staaten bei der Entwicklung besserer Gesetze zu unterstützen und gleichzeitig dort präsent zu sein, wo Rechte umkämpft sind und offizielle Daten fehlen.
Landrechte sind eng mit der Umwelt verknüpft
Eine der großen Herausforderungen besteht darin, Lösungen zu skalieren und den politischen Raum zu erweitern. Die UN-Konventionen zu Klima, Biodiversität und zur Bekämpfung der Wüstenbildung bieten entscheidende Ansatzpunkte, um Land im Zentrum globaler Politik zu halten. Fortschritte sind bereits sichtbar: Indigene Bevölkerungen und lokale Gemeinschaften werden zunehmend als unverzichtbare Bewahrer*innen der Biodiversität anerkannt – eine Rolle, die ohne sichere Landrechte nicht möglich ist. Länder wie Burkina Faso, Liberia und Togo verankern Sicherheit der Landnutzungsrechte in ihren nationalen Klimabeiträgen und Rehabilitationsplänen und machen so Klimaziele gerechter und realistischer. Ein weiterer wichtiger Schritt kommt aus der UN-Biodiversitätskonvention, die einen neuen Leitindikator zu den Landrechten indigener und lokaler Gemeinschaften eingeführt hat – ein Erfolg gemeinsamer Advocacy und ein Durchbruch, weil er Land endlich im globalen Biodiversitätsrahmen sichtbar macht.
Abschließend wird deutlich: Land ist politisch, komplex – und grundlegend. Gerechte Landgovernance ist untrennbar verbunden mit Klimaresilienz, Ernährungssicherheit, dem Schutz der Biodiversität und Frieden. Untätigkeit wird uns alle teuer zu stehen kommen. Doch es gibt Momentum. Macht verschiebt sich, wenn Menschen sich hinter einer gemeinsamen Vision versammeln – wenn Menschen aus der gelebten Praxis bewährte Lösungen teilen, wenn Diplomat*innen sie in Verhandlungen voranbringen und wenn Bürger*innen Rechenschaft einfordern. Echter Wandel entsteht durch Beharrlichkeit und Zusammenarbeit.