Ist das Recht auf Nahrung ein Papiertiger?
Angemessene Ernährung – das ist ein Menschenrecht. Doch die Realität sieht oft anders aus. Woher es kam und wohin es geht: Ein Dreieraustausch zwischen Dr. Andreas Schaumayer (Referatsleiter Ernährungssicherung und Fischerei im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung / BMZ), Bernd Schwang (Referatsleiter Internationale Zusammenarbeit für Ernährungssicherung und Klimaschutz im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft / BMEL) und Michael Windfuhr (stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte) über das Recht auf Nahrung.
Das Recht auf angemessene Ernährung ist völkerrechtlich verbindlich im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt) von 1966 verankert. Bleibt es jedoch zahnlos im Schatten steigender Zahlen von hungernden Menschen weltweit?
Michael Windfuhr: Das wäre ein Missverständnis dessen, was Menschenrechte sind. Wenn sie formuliert sind, heißt es nicht automatisch, dass sie auch umgesetzt sind. Deswegen heißt die Französische Revolution Revolution und nicht Evolution. Die Rechte brauchen eine Anerkennung im nationalen Rechtsrahmen und eine aktive Umsetzung der Regierung. Und solange brauchen wir eine Zivilgesellschaft, die sie einfordert – oder nationale Menschenrechtsinstitutionen, die sozusagen Dampf machen.
Welche Rolle spielt das Recht auf Nahrung für Sie beide in den Ministerien?
Bernd Schwang: Seit 20 Jahren haben wir konkrete Leitlinien, wie man das Menschenrecht auf Nahrung umsetzt. Und man muss ehrlicherweise zugestehen, dass die Zahl der Hungernden nicht so ist, dass man zufrieden sein kann. Wir müssen hinterfragen, ob unsere Instrumente und unsere Ansprache ausreichen. Ich komme ja aus dem Bereich der Projektzusammenarbeit. Da arbeiten wir mit Dialogformaten und weltweiten Partnern; da geht es darum, viel stärker auf der konkreten Ebene klarzumachen, was diese Menschenrechte eigentlich bedeuten. Das ist, was wir jetzt anstreben.
Andreas Schaumayer: Für uns in der Entwicklungszusammenarbeit bedeutet das Recht auf angemessene Nahrung die Möglichkeit, mit Referenzdokumenten auf rechtlicher Basis, die multilateral vereinbart sind, unser Wirken zu steuern. Das heißt: In der Umsetzung ist dieser Referenzrahmen wichtig, weil er international anerkannter Standard ist und wir dann auf Basis dieses Standards mit den Partnern, Regierungen, aber vor allem auch mit der Zivilgesellschaft in den Dialog eintreten können. Denn wir sehen das Recht auf angemessene Nahrung und den menschenrechtsbasierten Ansatz auch als Partizipationselement. Das nutzen wir in der Entwicklungszusammenarbeit.
Windfuhr: Erlauben Sie mir noch einen Satz zur Umsetzung von Menschenrechten: Bei jeder Rechtsumsetzung gibt es in allen Ländern Widerstände. In ländlichen Regionen wird zum Beispiel besonders gehungert, 60 bis 70 Prozent der Hungernden leben dort – dann hat das oft mit Zugang zu Land zu tun. Diese Menschen sind ländliche Produzenten, und der Hunger zeigt: Sie haben ein Problem mit einer Regierung, die sich nicht um sie kümmert. Keine garantierten Landtitel, keine Kredite, kein Zugang zur Lagerhaltung; das hat mit politischem Umsetzungswillen zu tun.
Wie kriegt man denn Regierungen dazu, dass sie sich kümmern?
Schaumayer: Indem wir mit unseren Partnerregierungen in einen konstruktiven Austausch kommen. Und dann ist es unsere Aufgabe, die Institutionen vor Ort zusammen mit den Partnern so aufzubauen, auch mit der Richtschnur Recht auf angemessene Nahrung, dass es bei den Menschen ankommt. Vor allem bei Minderheiten und Frauen, da diese häufiger unter Ernährungsunsicherheit leiden.
Schwang: Ja, wir sind uns darin einig, dass diese Referenzrahmen absolut die Leitlinien für das bilden, was wir tun. In der konkreten Zusammenarbeit muss man ganz klar diese Themen benennen. Ich fand es sehr interessant, dass der Nobelpreis für Wirtschaft dieses Jahr an drei Forscher*innen ging, die genau gesagt haben:
Inklusive Politiksysteme führen dazu, dass Wohlstand eher vermehrt wird und auch stabil bleibt. Mit konkreten Beispielen und Fortschritten kann man Partner überzeugen!
Hätten Sie ein Beispiel?
Schwang: Etwa die Beteiligung von Frauen in einem Landwirtschaftssystem bringt Fortschritte. Bei einem Projekt zu Wasserrechten ist man mit einer Multi-Stakeholder-Plattform zu Lösungen gekommen, weil alle Interessen zusammengebracht wurden.
Windfuhr: Schauen wir uns doch mal Beispielländer an, etwa Brasilien: Unter der ersten Regierung Präsident Lulas schaffte man es mit dem Null-Hunger-Programm in vier Jahren, von der Weltkarte der Hungerstaaten zu verschwinden. Das war die schnellste Reduktion von Hunger überhaupt: Es wurden Sozialhilfeprogramme für Bürger realisiert, die nicht selber ökonomisch tätig werden können, weil sie etwa alleinerziehend, alt oder kleine Kinder sind; auch Schulernährung war Teil dieses Erfolgspakets. Dann kam eine andere Regierung, die das alles aufgehoben hat. Auf einmal war Brasilien vier Jahre später wieder mit enormen Zahlen auf der Hungerkarte. Und jetzt ist die neue Regierung wiederum dabei, diesen Misserfolg zurückzudrehen. Das zeigt: Eine Regierung hat eine Menge Möglichkeiten. Die Staatschefs der Afrikanischen Union hatten 2003 in Maputo beschlossen, zehn Prozent ihres Haushaltes in ländliche Entwicklung und Agrarentwicklung zu investieren. Bis heute haben das von 54 Ländern neun geschafft. Das zeigt natürlich: Die Priorität ist nicht groß. Diese Prozesse dauern lange, sie müssen eben tatsächlich umgesetzt werden. Die Erfolge, das hat Brasilien gezeigt, können dann sogar relativ schnell sein.
Herr Windfuhr, Sie haben gerade eben Teile des brasilianischen Pakets unter Lula skizziert. Was umfasst denn das Recht auf Nahrung noch alles?
Windfuhr: Das Recht auf Nahrung ist ein besonderes Recht, weil für die Realisierung nicht nur ein Politikbereich gilt. Beim Recht auf Bildung können Sie über den Bildungsetat nachdenken, das ist einfacher. Beim Recht auf Nahrung aber muss man sich um die Möglichkeit von Menschen kümmern, sich selbst zu ernähren. Wenn Menschen als Bäuer*innen oder Fischer*innen nicht selbständig sind, müssen sie einen Job annehmen – da braucht man im Grunde eine Jobsicherheit oder auch Garantien für Mindestlöhne, die würdig sind. Es betrifft also Gesetzgebungen im Arbeitsrecht. Wenn Sie an arme Kinder aus armen Familien denken, dann ist es oft Schulnahrung, die die Kinder dazu bringt, in die Schule zu gehen und einen wichtigen Teil ihrer Ernährung zu bekommen. Oder sie brauchen für bestimmte Bevölkerungsgruppen auch Transfers, weil sie gar nicht in der Lage sind, sich derzeit selbst zu versorgen. Es ist also ein Paket von Maßnahmen in unterschiedlichen Politikfeldern. Dies macht das Recht auf Nahrung eben herausfordernd.
Schaumayer: Deshalb setzen wir in der bilateralen Zusammenarbeit mit den Staaten auch auf nationale Aktionspläne zur Transformation der Ernährungssysteme und damit zum Recht auf angemessene Nahrung, um das zu unterstützen. Es gibt halt keinen One-Size-Fits-All-Ansatz. Wo dies aufgesetzt ist, sei es in einem Agrarministerium, in einem Präsidialamt oder in einem Gesundheitsministerium, müssen die Staaten schon für sich selbst entscheiden. Aber wie Herr Windfuhr gerade sagte: Es ist ein übersektoraler, ganzheitlicher Ansatz.
Schwang: Ich möchte noch kurz auf Brasilien zurückkommen. Denn das Land ist ein Paradebeispiel dafür, wie Governance einen transpolitischen Prozess befördern kann. In den dortigen Ernährungsräten sitzen zu zwei Dritteln Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, und dann aus der Politik, aus fast allen Ministerien. Die Akteure haben vorher in einem systematischen Prozess Ideen entwickelt, die wirklich in verschiedene Bereiche reingehen. Da geht es um Frauen, da geht es um Schulessen, Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft, es geht um indigene Bevölkerung – und sie kennen auch die Texte der unterschiedlichen Gesetze ganz genau. Das wird dann mit der Regierung diskutiert. Das ist aus meiner Sicht ein perfekter partizipativer Ansatz, von dem wir in Deutschland auch lernen können.
Wäre das was für Deutschland?
Windfuhr: Ja, es ist ein gutes Beispiel. Das BMEL hat gerade eine Studie veröffentlicht: Wie sieht es mit der Ernährungssituation in Deutschland aus? Und da fehlen viele Daten. Wir haben im Grunde in Deutschland darüber keine genaue Kenntnis. Warum gehen immer mehr Leute zu den Tafeln? Das kann eine Einkommensfrage sein, es können psychische Probleme zugrunde liegen – es können eine Menge Faktoren sein, und die gilt es zu identifizieren. Selbst in einem Land, das sehr viele Ressourcen hat, gibt es Hunger.
Bei der Welternährungskonferenz Ende Oktober in Rom stand das Recht auf Nahrung oben auf der Agenda. Wurden aus Ihrer Sicht neue Perspektiven eröffnet?
Schaumayer: Ich war vor Ort. Es ist ein sehr großer Erfolg, dass trotz der schwierigen Weltlage wesentliche Entscheidungen als Ergebnis eines partizipativen Verhandlungsprozesses getroffen wurden. Auch der Ausschuss für Welternährungssicherung der Vereinten Nationen (CFS) war von Auseinandersetzungen zu Gaza, aber auch zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geprägt. Durch solche geopolitischen Auseinandersetzungen wird es für alle Staaten immer schwieriger, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Und deswegen ist auch der Welternährungsrat als inklusive Institution, also mit den Beteiligten aus Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Wissenschaft, sehr wichtig, um den Staaten ein bisschen über die Klippe zu helfen. Und zwar, weil die nicht-staatlichen Akteure aus meiner Sicht teilweise noch näher an den Beteiligten sind als manche Regierungen. Der Austausch in diesem Format ist aus meiner Sicht exemplarisch dafür, wie man aus einem möglicherweise langsameren aber inklusiven Prozess, erhöhte Legimitation gewinnt. Das ist vielleicht auch ein Ausweg aus Blockadesituationen, die sich zwischen Regierungen aufbauen.
Schwang: Ich will mich dem anschließen. Wir haben uns mit dem BMZ eng abgestimmt, sind als geschlossene deutsche Delegation aufgetreten. Und ich finde, wir haben da einen sehr guten Auftritt hingelegt. Es gab eine klare Vision. Alle Beteiligten, die in Rom vor Ort waren, waren regelrecht euphorisiert.
Schaumayer: Insbesondere in Anbetracht des 20. Jubiläums der Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrungen haben wir als Bundesregierung, unter anderem im Rahmen des Arbeitskreises Welternährung, den wir hier in Deutschland führen, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und mit dem BMEL das Recht auf angemessene Nahrung in diesem Jahr aktiv in unterschiedlichen Formaten bearbeitet. Unser Erfolgsprinzip: Der Weg nach Rom wurde gemeinsam mit der Zivilgesellschaft vorbereitet.
Windfuhr: Man muss fairerweise feststellen, dass viel erreicht worden ist. Das Recht auf Nahrung wurde jetzt im Welternährungsausschuss breit unterstützt. In dem Ausmaß ist das bisher kaum vorhanden gewesen. Am Ende haben die Delegierten eine ganze Box mit Entscheidungen angenommen, in der es vor allem um ein verbessertes Update des Rechts auf Nahrung in Ländern geht – mit sehr vielen konkreten Maßnahmen, die auch vorher gemeinschaftlich vom Programmkomitee erarbeitet worden sind. Das ist ein Meilenstein.
Nach 20 Jahren freiwilliger Leitlinien ist es aber eine lange Wegstrecke gewesen…
Windfuhr: Nun gibt es einen wirklichen Konsens. Die Ernährungsorganisationen in Rom haben über Hunger immer nachgedacht: Mal hieß es, viel helfe viel, also solle mehr produziert werden, mit mehr Düngemittel, mehr Wasser und mehr Pestiziden. Und auf einmal merken wir in einer Welt, die sowieso ökologisch an ihre Grenzen kommt, dass dies gar nicht so sein muss. Denn in vielen Ländern, die zahlreiche Überschüsse erzielen, ist auch die Zahl der Hungernden hoch. Nun geht es vielmehr darum, genau zu gucken, warum die Leute hungern. Das ist das Entscheidende. Dann muss man sie übrigens auch möglichst nachhaltig versorgen und nicht dabei noch die ökologischen Ressourcen gefährden; das wäre für das Recht auf Nahrung in Zukunft gefährlich.
Herr Schaumayer, aus Ihren Worten höre ich eine gewisse Verzahnung Ihrer Ministerien auf Arbeitsebene heraus. Wie weit geht die?
Schaumayer: Die Verzahnung ist einerseits ganz klassisch und formal, indem wir uns dort abstimmen, wo wir auch dazu verpflichtet sind. Darüber hinaus aber ziehen wirklich alle Akteure an einem Strang. Landwirtschaftsministerium und Entwicklungsministerium haben in den vergangenen Jahren einen Veränderungsprozess hingelegt, der sozusagen in der Transformation von Agrar- und Ernährungssystemen mündete.
Die Herausforderungen sind ja auch gewachsen, nicht wahr?
Schaumayer: Durchaus. Herr Windfuhr hat Recht: Produktion allein reicht nicht aus, um Ziele wie Gesundheit, Bekämpfung des Klimawandels, aber auch das wirtschaftliche Wachstum innerhalb der planetaren Grenzen zu erreichen. Da macht es Sinn, die fachliche Expertise des Landwirtschaftsministeriums und die internationale Kompetenz des Entwicklungsministeriums zu kombinieren.
Schwang: Das sehe ich auch so. In enger Abstimmung mit dem BMZ und auch mit dem Auswärtigen Amt schauen wir, wo wir reingehen, wo wir upscalen. In dieser Legislatur ist das nochmal viel besser geworden – auch durch ein solch trauriges Ereignis wie den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Das bedurfte schneller und enger Abstimmungen, was uns gelang. Und es war extrem wichtig, dass wir als Bundesregierung beim CFS genauso auftraten. Denn der CFS ist im UN-System ein einmaliges inklusives Format.
Windfuhr: Es gäbe allerdings noch andere Politikfelder, die besser koordiniert werden könnten. Denken Sie an Handelspolitik, an die europäische Agrarpolitik, die durchaus zum Teil sehr negative Auswirkungen auf Entwicklungsländer haben können. Mit dem Recht auf Nahrung als Leitschnur könnte man sich an verschiedenen anderen Stellen weiterentwickeln.
Nun wurden die Leitlinien vor 20 Jahren gerade unter der Beteiligung der Zivilgesellschaften formuliert. Wie ist der Einfluss der Zivilgesellschaften heute?
Windfuhr: Im CFS gibt es einen Civil Society and Indigenous Peoples Mechanism, wo über 1000 Organisationen aus allen Teilen der Welt zusammenarbeiten. Das ist beispielgebend für andere Sektoren der UNO. Gerade Beschlossenes wird zur Umsetzung von Zivilgesellschaften eingefordert, das ist ein wichtiger Hebel.
Schwang: Für uns ist die Rolle der Zivilgesellschaft zentral. Gesellschaftliche Innovation kommt aus der Zivilgesellschaft. Ich will damit nicht sagen, dass Politik nicht innovativ sein kann, aber die wahren Impulse kommen aus der Zivilgesellschaft. Auch Agrarpolitik funktioniert nur, wenn sie durch Impulse der Zivilgesellschaft angereichert und von ihr getragen wird.
Schaumayer: Über die Impulse der Zivilgesellschaft und indigenen Menschen hinaus möchte ich die Privatwirtschaft mit einschließen. Es ist ja auch der Unternehmer oder die Unternehmerin, die vor Ort kleinteilig oder auch großteilig anfangen will – und dann die Ernährungssicherung vor Ort realisiert. Ein mir wichtiger Ansatz ist die Partizipation, um dadurch auch unternehmerische Freiheit zu gewährleisten und diese in einen Regulationsrahmen einzubetten, den wir auf internationaler Ebene vereinbart haben.
Wir müssen globale Vereinbarungen treffen, sei es zu Klima, Biodiversität oder Wüstenbildung. Es braucht einen Rechtsrahmen. Dann bestehen auch wirtschaftliche Chancen und individuelle Chancen, Dinge voranzubringen. Das ist für mich auch Partizipation.
Windfuhr: Es gibt drei Menschenrechtsprinzipien, die immer genannt werden: Partizipation, Transparenz und Nichtdiskriminierung. Und nun wird aktuell ein viertes Prinzip diskutiert – das der Nachhaltigkeit. Wenn wir es nicht schaffen, bei der Nahrungsmittelproduktion oder beim Umgang mit Wasser und anderen Ressourcen eine langfristige Nachhaltigkeit abzusichern, dann haben wir natürlich auch die Umsetzung des Rechts auf Nahrung langfristig gefährdet.
Das klingt erstmal alles sehr abstrakt, ist aber eine unheimliche Herausforderung für konkrete Prozesse.
Schwang: Ich möchte einen Punkt ergänzen, und zwar den der Bildung. Entscheidend ist, dass die Menschen in der Lage sind, diese Rechte zu kennen und einzufordern. Dass sie wissen, wie man auf Partizipation pocht. Da können wir in Bezug auf die Leitlinien noch besser werden, und zwar in der Kommunikation der Leitlinien selbst. Die sind teilweise sehr formal geschrieben.
Nun ist die Welt zweifellos im Veränderungsmodus, ob wir wollen oder nicht. Das betrifft auch die Agrar- und Ernährungssysteme und ihre Transformation. Ergeben sich daraus konkrete Chancen für das Recht auf Nahrung?
Schwang: Wir haben einen fachlichen Kompass, und das ist die Agrarökologie. Die Agrarökologie ist ein Beispiel für ein Wort, das sich vom Kampfbegriff zu einem wirklich lebendigen Konzept entwickelt, das meiner Meinung nach immer mehr Beachtung findet. Es ist ein transformatives Konzept, weil man Landwirtschaft als Prozess versteht, der durch Partizipation und Wissensgenerierung ständig in Bewegung ist.
Schaumayer: Die Realität wird uns in Bezug auf das, was wir tun müssen, einholen. Die Herausforderung wird darin liegen, diese Transformation weltweit zu skalieren. Planetary Diet zum Beispiel ist eine Ernährung, die nicht nur dem menschlichen Körper guttut, sondern auch der Umwelt. Aber aufgrund der Tatsache, dass uns jetzt Dürren, Überschwemmungen, Wirtschaftskrisen und Konflikte immer mehr einholen, müssen wir die Wahrnehmung der Bevölkerung mitnehmen, dass sich Dinge auch auf einer globalen Ebene ändern müssen. Ich sehe darin eher eine Chance.
Wobei sollte denn mitgenommen werden?
Windfuhr: Wir werden viel mehr Probleme bekommen. Die Chance der notwendigen Transformation liegt darin, dass man die Prozesse so gestaltet, dass Menschen, die bislang übersehen wurden, auch davon profitieren können. Die Brasilianer*innen haben zum Beispiel manche Fördermaßnahmen für ihre Schulspeisungen daran geknüpft, dass man dies regional bei Kleinbäuer*innen einkauft, um geschlossene Kreisläufe zu schaffen. Wenn wir eine Kreislaufwirtschaft in bestimmten Bereichen einführen, kann das sehr wohl bestimmte Nutzergruppen stärken. Wenn wir von indigenen Gruppen lernen, was es an Erhalt von Artenvielfalt gibt, sind eine Menge Möglichkeiten drin. Das geschieht aber nicht von selbst. Das wird auch zu Einkommensverlusten führen, möglicherweise von Landwirt*innen hier. Wir müssen diese Prozesse sozial angemessen begleiten. Die Widerstände gegenüber der Transformation sind derzeit groß genug.
Die Chance liegt eben darin, Nachhaltigkeit nicht nur als eine Masche der reichen Mittelschicht zu sehen, sondern tatsächlich als eine existenzielle Basis, von der aus auch andere Leute profitieren können.
Das war jetzt notwendigerweise appellativ. Sehen Sie drei wirkliche Chancen, die Bevölkerungen mitzunehmen auf diesem Weg, die Transformation sinnvoll zu nutzen?
Windfuhr: Ja, sicherlich. Schauen wir allein darauf, wie zum Beispiel die Zukunftskommission Landwirtschaft nach den Bauernprotesten vor ein paar Jahren einen großen Konsens an Möglichkeiten andachte. Da wurde auch über die Reduktion der fleischlastigen Ernährung nachgedacht, und zwar nicht als Zwangs- oder Verbotsmaßnahme, sondern als Prozess, den die Gesellschaft auch mitmachen kann. Bestimmte Gruppen dürfen nicht vergessen oder sozial überfordert werden, damit keine Ängste entstehen. Darin liegt eine große Kunst auch für die Politik, die oft an vier Jahre gebunden ist und diese Gesamtprozesse gar nicht so einfach steuern kann. Die Kosten einer Nichttransformation lägen gleichzeitig natürlich erheblich höher, auch dies muss Teil der Kommunikation sein.
Schwang: Eine anspornende Transformation bedeutet, dass wir etwas zum Besseren wenden. Gerade die Transformation der deutschen Landwirtschaft im Fleischbereich hat dazu geführt, dass viele Betriebe wieder eine stabile wirtschaftliche Perspektive haben. Ökolandbaubetriebe erzielen heute häufig überdurchschnittlich bessere Betriebsergebnisse. Und ich glaube, da kann man sich auch andere Bereiche angucken. Agrarökologie ist in der Lage, mehr Menschen in Arbeit zu bringen, gerade in ländlichen Gebieten – wenn man mitdenkt, von der Urproduktion bis hin zur Verarbeitung und zum Handel ein Gesamtkonzept zu haben.
Die Debatte um dieses Wort Transformation ist leider sehr strapaziert und leider auch ein bisschen mit Kälte behaftet. Wir müssen anders kommunizieren. Also in die Chancenkommunikation reinkommen.
Schaumayer: Transformation ist immer mit dem Thema Innovation verbunden. Aber Innovation bedeutet nicht nur die jene, die wir die letzten 150 Jahre hatten, nämlich im Bereich der technischen Innovation, sondern auch der organisatorischen Innovation. Und da kann man eine Brücke schlagen. Es ist wichtig, eine positive Perspektive auf die Zukunft zu haben: Nicht alles, was wir an Problemen im Jahr 2024 haben, kann mit dem Wissen und den Mitteln von 2024 gelöst werden. Die Innovation wird dazu führen, dass wir in der Zukunft auch in der Lage sind, Probleme anders anzugehen.
Was sollte denn vermieden werden, im Schatten der Transformation und des Rechts auf Nahrung?
Schaumayer: Wir sollten uns als Weltgemeinschaft nicht zurückentwickeln, da wir nicht am Ende der Geschichte sind, wie das in den vorigen Neunzigern tituliert wurde – sondern wir sollten der Bildung unterschiedlicher Machtblöcke entgegenwirken. Die werden die menschliche Entwicklung massiv einschränken und wir werden sehr viele Ressourcen dafür verwenden müssen, um die verschiedenen Interessen auszubalancieren. Das ist für mich aus menschlicher Perspektive ein No-go, weil wir einfach unsere individuellen und auch kollektiven Chancen dadurch massiv unterminieren. Unsere Herausforderung als Europa oder auch als Deutschland ist schon da. Es gilt dagegen anzuarbeiten, dass diese Polarisierung nicht weiter eskaliert und damit das Recht auf angemessene Nahrung nicht massiv eingeschränkt wird, weil es wieder zu Stellvertreterkriegen kommt.
Schwang: Uns muss eine menschenrechtsbasierte Transformation gelingen. Punkt.